Popcorn & Rollenwechsel

Die Spur der verlorenen Kinogänger

von
Die Analyse der Kinocharts gleicht manchmal einem Film noir, wie unser Filmkolumnist beweist.

Es war ein grauer Samstagmorgen wie jeder andere verdammte Morgen zuvor. Ich konnte meine Jalousien seit drei Wochen nicht mehr hoch machen, die Luft in meiner Whiskeyflasche benötigte zunehmend Platz und meine kubanische Zigarre schmeckte wie verschwitzte Tennissocken. Vielleicht sollte ich sie woanders aufbewahren, als in meiner Sockenschublade. Es sollte alles noch gefährlicher werden, als sie in mein Büro trat. Rotes Kleid, volle Lippen und Augen, mit denen man Nüsse knacken kann. Ich sei der beste in meiner Branche, sagte sie, und deswegen habe man mich ihr empfohlen. Informiert war das süße Ding, das musste man ihr lassen. Während sie mir mit ihrem Aussehen den Verstand aus dem Leib sog, bat sie mich herauszufinden, wo die Kinobesucher von «Kick-Ass» geblieben seien. Kaum klärten wir die Bezahlung, war ihr feines Hinterteil wieder aus meinem Büro verschwunden.

Sofort wandte ich mich an meinen besten Informanten, den pfeifenden Walker. Ob er etwas von einem großen Entführungsfall gehört habe. Doch meine Spur war so kalt, wie die Nase eines verschnupften Köters: Sämtliche Entführer befanden sich aktuell auf Fortbildungsurlaub in Chicago. Demnach sind die Kinobesucher für diesen Streifen, um den sich die verführerische Lady so sehr sorgte aus anderen Gründen abgetaucht, bevor sie eine Eintrittskarte lösten. Dieser Fall schien in Arbeit auszuarten. Das kommt davon, wenn man Frauen in sein Büro lässt…

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, falschen Fährten zu folgen. Die waren so falsch, dass ich jetzt nicht weiter darüber sprechen möchte. Doch wie es bei einem guten Privatdetektiv so läuft: Steuert man in die Irre, findet man am Ende gerade dadurch die richtige Spur. Einen Umweg musste ich aber noch nehmen: Die Bar „Zum saufenden Henker“, wo ich meinen Ärger über den verschenkten Tag ertränken wollte. Da haute mich ein Säufer von der Seite an: Der wäre ins Kino gegangen, schön brav mit seiner 3D-Brille, und dann… bräuchte er sie nicht. Das habe ihn so verwirrt, dass er abgehauen ist. Da traf es mich wie der Schlag: Die «Kick-Ass»-Besucherzahlen litten möglicherweise an der 3D-Sucht! Immerhin ist «Kick-Ass» der erste größere Film mit Kampfszenen, der nach «Avatar» rauskam und auf 3D verzichtete! Vielleicht hat das die Leute abgeschreckt? Schnell kippte ich meinen letzten Kurzen und stürmte in die mittlerweile regnerische Nacht. Dann traf mich der Schlag.

Ich hatte ihr Parfüm in meiner Nase. Wieder blickten mich wollüstige Augen an, die man zum Knacken von Paranüssen verwenden könnte. Sie war es, meine Auftraggeberin. Wie könnte ich Dämlack ernsthaft glauben, dass es allein am mangelnden 3D-Effekt läge, fragte sie mich. Wie kommt es, dass mich eine wohlgeformte Frau beschattet und ich nichts davon mitbekomme, fragte ich mich selbst. Manch anderer Detektiv würde sich in dieser Situation zudem über die Motive der Dame wundern. Ich hingegen erlaube Frauen dieses Kalibers beinahe alles.
Mehr oder weniger freiwillig stürzte ich mich also noch tiefer in diesen Fall und beschloss sogar, einen Informanten aufzusuchen, den ich sonst möglichst vermeiden möchte. Den unheimlichen Drehbuchautoren. Er ist launisch, er stinkt, er hat einen grausamen Kleidungsstil und er kann sich nicht einmal selbst die Krawatte binden. Dennoch wagte ich mich zu ihm und schilderte ihm von meinem Fall. Schnell erzählte er mir etwas von „Mental Real Estate“, der wichtigsten Währung Hollywoods, wie er betonte. Grob erläutert: Je mehr Glocken beim Publikum läuten und sie sich an bereist bekanntes erinnern, wenn sie von einem Film hören, desto größer die Erfolgsaussichten. Deswegen gibt es so viele Fortsetzungen, Buchverfilmungen und Remakes, genau deshalb werden beliebte Hollywood-Stars so hoch bezahlt. Unbekannte Originalstoffe mit unbekannten Hauptdarstellern können vielleicht noch auf einen berühmten Regisseur oder Produzenten hoffen. Ist auch das nicht gegeben, dann ist dieses Projekt für das produzierende Studio ein Risiko. Um sich „Mental Real Estate“ zu ergattern, werden zuweilen sogar Original-Drehbücher zu Fortsetzungen umfunktioniert. So etwa geschehen mit dem Thriller „Simon says“ der zu „Stirb langsam - Jetzt erst recht“ umgeschrieben wurde, weil Bruce Willis in seiner Paraderolle dem Film direkt einen Haufen interessierter Zuschauer spendiert.

«Kick-Ass» hat einen eher niedrigen Wert in Hollywoods großer Währung. Wer kennt schon die Comicvorlage? Kaum jemand. In Deutschland ziehen «Spider-Man» oder «Batman», aber «Kick-Ass»? Natürlich muss die Vorlage nicht bekannt sein, um einen Erfolg zu erzielen, das bewies zum Beispiel «Men in Black», dessen Comicinspiration noch unbekannter gewesen sein dürfte als die von «Kick-Ass». Aber «Men in Black» hatte Will Smith in der Hauptrolle, warb mit Will Smith in Trailern und auf den Postern und hatte den Vorteil eines Hitsongs von und mit Will Smith. Der Cast von «Kick-Ass» besteht aus No Names, Christopher Mintz-Plasse der als Person wesentlich unbekannter sein dürfte als seine Rolle als McLovin in «Superbad» und einen in den meisten Trailern nicht gezeigten Nicolas Cage in einer Nebenrolle, der auf Postern unter seiner Maske nicht zu erkennen ist.

Diese Informationen gab ich meiner Informantin in den frühen Morgenstunden des Sonntags. Wie sie mich gefunden hat? Das weiß ich nicht mehr. Wie sie mich bezahlt hat? Das geht euch nichts an. War ich danach glücklich? Ja. Für kurze Zeit. Dann las ich in der Zeitung die neuen Kinocharts und mir fiel auf: Alle möglichen Filme laufen unter den Erwartungen. Was stand in der Tageszeitung direkt unter den Kinocharts: Das Wetter. Sonnig. Warm. Der Schnee bringende Winter? Vollkommen in Vergessenheit geraten. Farewell, Daisy. Sind die Leute einfach kinofaul geworden und grillten lieber? Mit rund 70.000 Besuchern in Deutschland schrieb «Kick-Ass» für einen Film seiner Sorte doch gute Zahlen. Fast 20 Millionen US-Dollar für das US-Startwochenende waren ebenfalls gut für einen Film mit hoher Jugendfreigabe. Nur raffgierige Studiobosse, die sich aufgrund guter Vorab-Internetkritiken Wunderzahlen versprechen, würden da nach Erklärungen für die angeblich enttäuschenden Zahlen suchen. Bedeutet das etwa…? Leitet meine mysteriöse Schöne etwa ein Hollywoodstudio? Grmpf… ich hätte doch ein höheres Gehalt verlangen sollen, statt mich in Naturalien bezahlen zu lassen!

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