Interview

Nilz Bokelberg: ‚Für uns waren Musikvideos im TV normales Pflichtprogramm‘

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Der Moderator, Podcaster, Sänger und Autor lebte früh den Traum vom Moderators. Mit 17 Jahren durfte Bokelberg bei VIVA vor die Kamera.

Hallo Herr Bokelberg. Sie kündigen in den ersten drei Minuten von «Die VIVA-Story» eine Geschichte an, die so noch nie auf dieser Welt erzählt wurde. Welche Geschichten entstanden im fünften Stock bei VIVA Television in Köln-Ossendorf?
Da entstand ein Sender, der vieles in diesem Land verändern sollte, vor allem den Blick auf Pop- und Jugendkultur. Wurden Jugendliche bis dahin meistens eher belächelt und ihnen mit Müh und Not mal irgendwo im Programm der anderen Sender, Öffis wie privat, ein Platz freigeschaufelt, hat VIVA plötzlich allen bewiesen, wie relevant Inhalte für diese Zielgruppe sind. Das kann man vermutlich nicht genug betonen. Und: In «Die VIVA-Story - zu geil für diese Welt!» erzählen wir die ganze Geschichte so detailliert und schonungslos, wie noch nie.

Die Geschichte ist schon 30 Jahre her. Was war seltsamer: Dass man während der Arbeit noch nebenbei Zigaretten schmökern konnte oder dass sich Menschen tatsächlich für einen Fernsehsender interessieren, der mit Videoclips Millionen unterhalten soll?
Haha, schöne Frage! Von heute aus gesehen definitiv die Zigaretten-Sache. Dass man mit Videoclips Menschen begeistert, war tatsächlich das am wenigsten seltsame oder überraschende: Ich bin vermutlich schon die zweite Generation MTV, für uns waren Musikvideos im TV normales Pflichtprogramm.

Sie trafen dort nicht nur auf den späteren EndemolShine-Chef Marcus Wolter, der damals Stefan Raab produzierte, sondern auch das gesamte Casting durchführte. Mussten Sie auch vor Ihm performen?
Er hat mich zumindest zum Casting eingeladen. Und er hatte offenbar ein wirklich gutes Händchen. Aber klar, sonst wäre er auch heute nicht da, wo er ist. Zu Recht.

Bei VIVA gab es zwei Hierarchien: Die Macher im Hintergrund, die schon teilweise etwas älter waren, und die Moderatoren, die junge Trendsetter waren. Herrschten hinter der Kamera zwei Kulturen, die aufeinanderprallten?
Ich muss ehrlicherweise sagen, dass es da eine große gegenseitige Wertschätzung gab. Klar waren nicht alle mit allen Best Friend, aber ich fühlte mich als Teenager von den älteren Mitarbeiter:innen durchaus meistens ernst genommen und auf Augenhöhe kommunizierend. Und das ist nicht selbstverständlich.

Sie, Heike Makatsch und Mola Adebisi waren die ersten drei Gesichter des Senders. Wie viel hatten Sie täglich zu tun und wurden Sie damals vernünftig entlohnt?
Also, für jemanden, der vor dem Sendestart von monatlich vermutlich 100 Mark Taschengeld lebte, wurde ich wirklich äußerst vernünftig entlohnt. Noch dazu direkt in einer Festanstellung. Das war alles sehr in Ordnung. Ich hatte so im Schnitt dreimal in der Woche Aufzeichnung. Wenn ich mit der Live-Sendung dran war, musste ich jeden Tag in den Sender, aber da haben wir rotiert. Ich war auch immer erst nachmittags dran.

Sie führten durch «Was geht ab», das neben «Interaktiv» zu den Aushängeschildern am Nachmittag gehörte. Würde eine solche Sendung heute noch ein Publikum begeistern?
Gute Frage. Kann eine Sendung so gut sein, dass sie noch Jugendliche vor lineares Fernsehen lockt? Vermutlich müsste es eine Mischkalkulation aus Twitch/Insta Live und Fernsehen sein, aber klar, warum nicht? Wenn sich Jugendliche ernst genommen fühlen, mit all ihren Gefühlen, dann hören sie auch gerne zu. Da ist dann das Medium vielleicht sogar egal.

Erst rund elf Jahre nach dem Start von VIVA wurden die Einschaltquoten gemessen. Glauben Sie, dass das ein Fluch oder Segen des Senders war?
Also, ich sag mal so: Uns und unserem Experimentiergeist hat es vermutlich auf jeden Fall geholfen, dass es keine Quoten gab. Das nimmt schon sehr viel Druck, sich nicht danach richten zu müssen.

Als Videojockey gründeten Sie auch noch die Band „Fritten + Bier“. Wollten Sie damals das nützliche mit dem Praktischen verbinden und austesten, ob Sie auch musikalisch durchstarten können?
Da muss ich korrigieren: Die Band gab es schon lange vor meinem VIVA-Engagement, die hab ich quasi mitgebracht. Es fiel mir dann leichter, einen Plattenvertrag zu kriegen, klar, aber die Band hatte ich schon immer. Als Ausgleich. Und habe jede Sekunde davon geliebt. Musik war also tatsächlich schon immer eine riesige Leidenschaft bei mir. Bis heute.

Sie wurden mit 17 Jahren VIVA-Star und brachen dann das Gymnasium. War das rückblickend ein Fehler oder ein wichtiger Schritt Ihrer Karriere?
Ich denke weder noch. Es ist nicht schlau, die Schule abzubrechen, ich würde davon abraten. Aber es war eine besonders seltsame Situation, als 17-jähriger plötzlich Fernsehstar zu sein und selbst entscheiden zu können, ob ich noch zur Schule will oder ob hier jetzt sofort mein Berufsleben losgeht. Ich habe mich für den Beruf entschieden. Das war schon in Ordnung. Aber an der Karriere hat es nicht viel geändert. Mich hat nie jemand nach meinem Zeugnis gefragt.

Eben erschien auch die «Echt»-Doku in der Mediathek. Die Band war häufig bei VIVA zu Gast. Haben Sie gerne mit den Sängern zusammengearbeitet?
Als "Echt" auf VIVA los legten und stattfanden, war ich gerade weg. Wirklich nur eine Frage von Monaten. So ist das manchmal im Leben. Aber die «Echt»-Doku ist fantastisch und Kim Frank ein spitzen Typ, dem alles Beste auf der Welt passieren soll.

Hätte das Konzept von VIVA eigentlich überleben können? Oder war das Thema Musikfernsehen dann eines Tages tot? MTV versuchte mit Factual-Shows zu überleben….
Ich glaube, die Zeit war vorbei. Das Internet, die ständige Verfügbarkeit jedes Musikvideos der Welt und dann viel später auch noch Streamingdienste - das hat Musiksendern alles den Rang abgelaufen. Ihre Gatekeeper-Funktion war nicht mehr vonnöten und als sie auch noch angefangen haben, nur noch Dating-Shows zu zeigen, haben sie ja selbst zugegeben, nicht mehr gebraucht zu werden. Ich denke, eines Tages können sie eine Renaissance erleben. Ich glaube auch, man könnte klein anfangen, mit einer Musik-Videosendung mit den zehn besten Videos der Woche, schön aus dem Internet kuratiert, Sonntagnacht, auf 3sat. Musikfernsehen und Gemütlichkeit miteinander kombinieren. Das wärs doch, in unser aller Alter.

Weder ProSieben, noch RTL haben sich an «Die VIVA-Story» herangetraut. Sind die Öffentlich-Rechtlichen derzeit moderner denn je?
Sie verstehen zumindest so langsam ihr Pfund zu nutzen und relevante, spannende und manchmal auch nischige Inhalte zu produzieren und mehr auf Qualität und Grundversorgung zu achten, als andere. Ich bin wirklich glücklich, dass sich ausgerechnet ARD Kultur der «VIVA-Story» angenommen hat. Das ist genau das perfekte Umfeld für so eine verrückt bis tragische Geschichtsstunde deutschsprachiger Popkultur. Insofern: Alles richtig gemacht, liebe Öffis!

Danke für Ihre Zeit!

«Die VIVA-Story - zu geil für diese Welt!» ab 1. Dezember in der ARD Mediathek.

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