Debatte

Sherlock Holmes und das Mysterium der Serienschöpfer-Fan-Beziehung

von

Oder: Wenn die mutmaßliche Sexualität einer fiktionalen Figur erst als Einschaltgrund herhält und letztlich zum Schwarzpulver in einer angeregt debattierenden Fangemeinde wird.

Dieser Artikel verrät nichts über die Kriminalplots oder das Leben und Ableben von Figuren in der vierten «Sherlock»-Staffel. Aber er verrät, wie die Serienmacher mit der online viel diskutierten Frage nach Sherlocks sexuellen Orientierung umgehen. Alle, die unwissend in die Staffel gehen möchten, sollten also nicht weiterlesen.

Der BBC-Kritikerhit und -Zuschauermagnet «Sherlock». Eine Serie mit einer sehr aktiven Fangemeinde, die Referenzen und Anspielungen aufstöbert, sich von Episode zu Episode in Spekulationen verstrickt und die mit großer Freude überlegt, was ihre Lieblingsfiguren abseits des gezeigten Geschehens treiben. Die Serienmacher reagieren auf ihre regen Fans. Und die Fans … regen sich auf. «Sherlock» mag zu den am meisten gefeierten Serien dieser TV-Ära sein. Aber sie ist auch eine, die besonders stark beschimpft wird.

Größter Streitpunkt im «Sherlock»-Fandom: Die Sexualität der Hauptfigur. Eine nicht geringe Untergruppe der online diskutierenden, fantasierenden und spekulierenden «Sherlock»-Fans befürwortete jahrelang eine Beziehung zwischen Sherlock und Watson. Social-Media-Dienste wie Tumblr quollen spätestens ab Ende der ersten Staffel nicht nur mit Analysen der einzelnen Folgen und zuweilen sehr detaillierten Spekulationen über den weiteren Handlungsverlauf über, sondern auch mit "Shipping"-Beiträgen, also mit Posts, in denen die Verkupplerinnen und Verkuppler ihre Wunschbeziehung feierten. Die «Sherlock»-Kategorien diverser Fanfiction-Portale sind konsequenterweise ebenfalls voller Watson/Sherlock-Geschichten.

Dass die Serienmacher über die Stimmungen in ihrer Fangemeinde Bescheid wissen, beweist der stilistische Verlauf der Serie. Adaptiert die erste Season schlicht und einfach Sherlock-Geschichten so, dass sie zu modernen Storys werden, werden in den späteren Staffeln die zu entwirrenden Komplotte proportional komplexer. Und genauso legte das Augenzwinkern gen Fantheorien und Fanwünsche zu – im Auftakt zur dritten Staffel werden die im Netz herumgereichten Spekulationen über den Cliffhanger der zweiten Season explizit parodiert, und auch die Fans, die Sherlock in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung sehen wollen, werden in einer Fantasiesequenz aktiv angesprochen.

Somit begann eine Hassliebe zwischen Macher und Fans. Denn wie es beim Necken so ist: Es ist ein Drahtseilakt, um aus einer keck-frechen, aber freundlich gemeinten Geste keine Gemeinheit werden zu lassen. Und nicht wenige «Sherlock»-Fans werfen Mark Gatiss und Steven Moffat Queerbaiting vor – also das Locken von Fans, die bestimmte Figuren in einer nicht-heteronormativen Beziehung sehen wollen mittels zahlreicher Andeutungen, ohne sie je einzulösen. Dass in späteren «Sherlock»-Staffeln Nebenfiguren zunehmend darüber scherzen, Watson nicht in einer Ehe mit einer Frau zu sehen, oder dass Sherlock in seinem Ermittlungspartner mehr als nur einen Freund sieht, es aber nicht zugibt, lässt sich nun einmal nicht nur als ein "Wir wissen, was ihr da draußen schreibt"-Zwinkern deuten, sondern auch als ein "So, wir haben darauf angespielt, lasst uns in Ruhe". Erst recht, wenn sich die beiden Figuren selbst bis zum Finale der vierten Season nicht näher kommen.

Dies steht exemplarisch für das Dilemma von Film- und Serienverantwortlichen in der Ära der unmittelbaren Faninteraktion: Sobald irgendwie ein Dialog mit den Fans aufgenommen wird, stellt sich die Frage, wie sehr deren Wünschen nachgegeben werden muss, um niemandem vor den Kopf zu stoßen. Natürlich hätten Gatiss und Moffat einigem Ärger entgehen können, Sherlock und Watson einfach zusammenkommen zu lassen. Andererseits: Neben den sehr lautstarken Watson/Sherlock-Verkupplern existiert genauso eine Fangruppe, die in der BBC-Version des berühmten Detektiven eine sehr nuancierte, lobenswerte Darstellung von Asexualität sehen. Hätten Moffat und Gatiss ihre zwei Hauptfiguren zusammengebracht, hätten sie jegliches vorab erhaltenes Lob für die Repräsentation einer in der Mainstreamfiktion häufig übersehenen Gruppe in den Wind geschlagen. Und sich deswegen Ärger eingehandelt.

Eine einfache Lösung gibt es nicht. Eine Serie wie «Sherlock» gewann viel Reiz durch ihr Kokettieren mit der Fanbase, was wiederum die langjährige Popularität der Serie auch trotz langer Wartezeiten zwischen den Staffeln begründete. Fans zu ignorieren ist also keine Antwort. Sobald es widersprüchliche Fanwünsche gibt, lässt sich aber nicht einfach ein Favorit darunter auswählen. Gleichwohl: Ja, Serienmacher, die dankend die Klicks und Quoten einer Fanbase annehmen, nur um deren Seriendeutung über den Haufen zu werfen, müssen sich nicht über Frust wundern. Die Kunst, die Serienverantwortliche erlernen müssen, liegt deswegen darin, einen feinfühligen Tonfall zu finden. – und vielleicht auch abseits der Serienarbeit auf Augenhöhe ihre Entscheidungen zu erörtern. Die wird dann noch immer nicht jeder Fan teilen – aber vielleicht steigert dies das gegenseitige Verständnis.

Benedict Cumberbatchs Version von Sherlock Holmes habe ich immer wie folgt gedeutet:
Als asexuell
23,6%
Als (unterdrückt) heterosexuell
17,8%
Als (unterdrückt) homosexuell
12,7%
Als (unterdrückt) bisexuell
13,1%
Nichts davon / Ich habe nie darüber nachgedacht
32,8%


Die vierte Staffel «Sherlock» ist am 4., 5. und 11. Juni 2017 jeweils ab 21.45 Uhr im Ersten zu sehen.

Mehr zum Thema... Sherlock
Kurz-URL: qmde.de/93503
Finde ich...
super
schade
100 %
0 %
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelPrimetime-Check: Freitag, 2. Juni 2017nächster ArtikelSyfy führt «Dark Matter» fort und talkt darüber
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief




E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung