Die Kino-Kritiker

«Unsere Wildnis»

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Nach «Nomaden der Lüfte» und «Unsere Ozeane» widmen sich die französischen Naturfilmpioniere Jacques Perrin und Jacques Cluzaud mit «Unsere Wildnis» den europäischen Wäldern und konnten dafür nicht bloß Schauspieler Sebastian Koch für sich begeistern.

Filmfacts: «Unsere Wildnis»

  • Kinostart: 10. März 2016
  • Genre: Dokumentation
  • FSK: 0
  • Laufzeit: 97 Min.
  • Kamera: Michel Benjamin, Laurent Fleutot, Eric Guichard
  • Musik: Bruno Coulais
  • Buch und Regie: Jacques Perrin, Jacques Cluzaud
  • Sprecher: Sebastian Koch
  • OT: Les Saisons (FR/DE 2015)
Als wir den deutschen Schauspieler Sebastian Koch Ende Februar zum Interview treffen, ist ihm die Euphorie in Bezug auf sein neuestes Projekt deutlich anzumerken. Dabei hat der Star aus «Das Leben der Anderen», «Homeland» und «Bridge of Spies» an der Naturdokumentation «Unsere Wildnis» gar nicht so ausführlich mitgewirkt, wie er es bei seinen Engagements im nationalen und internationalen Kino normalerweise gewohnt ist. Für das neueste Werk der Tierfilm-Pioniere Jacques Perrin und Jacques Cluzaud («Nomaden der Lüfte», «Unsere Ozeane») begab sich Koch nach «Die Galapagos-Affäre» ein weiteres Mal hinter die Kamera und fungiert in «Unsere Wildnis» als Off-Kommentator, der das auf der Leinwand gezeigte Geschehen in unregelmäßigen Abständen kommentiert. Doch anders als man es aus gängigen Naturfilmen kennt, bleibt das Voice-Over zurückhaltend, ebenso wie die Musik. Cluzaud und Perrin begeben sich mit «Unsere Wildnis» auf – aus Zuschauersicht – gefährliches Terrain. Ihr Film wirkt wie aus der Zeit gefallen, folgt allenfalls einer losen Dramaturgie, indem er sich an dem Fortverlauf der vier Jahreszeiten orientiert, zelebriert die entschleunigende Stille und vollführt trotzdem das Kunststück, dass das Publikum niemals den Eindruck erhält, das Leinwandgeschehen wäre langweilig.

Als die letzte Eiszeit vor etwa 15.000 Jahren endete, kehrten auch die Jahreszeiten nach Europa zurück. Nicht länger herrschte andauernder Winter. Frühling, Sommer, Herbst hielten wieder Einzug und ausgedehnte Wälder bedeckten den ganzen Kontinent – bevölkert von zahllosen Tier- und Pflanzenarten. In faszinierenden Bildern zeigt „Unsere Wildnis“, wie sich die Natur unaufhörlich unter dem menschlichen Einfluss wandelt. Aus der Perspektive von Flora und Fauna wird uns die Schönheit und Harmonie der ursprünglichen Wildnis vor Augen geführt, die nach und nach unter der zunehmenden Einwirkung des Menschen schwindet. Die Tier- und Pflanzenwelt muss sich den ständig wechselnden Bedingungen anpassen, einheimische Tierarten wie Wildpferde, Wölfe und Bären werden verdrängt, aber die Natur findet immer wieder Wege, sich in dem neuen Lebensraum zu entfalten.

„Auch Ihr seid gefragt, damit dieser Film gesehen wird!“, ist die Antwort auf unsere Frage, als wir von Sebastian Koch wissen möchten, was er dazu sagt, dass Dokumentarfilme im nationalen wie internationalen Kino nach wie vor ein Nischendasein fristen. Es gibt Ausnahmen. Man denke nur an «Die Reise der Pinguine» oder die polarisierenden Reportagen von Michael Moore. Doch ein Großteil nonfiktionaler Kinounterhaltung schafft es aufgrund äußerst geringer Kopienanzahlen nur in wenige Kinosäle – das Untergehen in der breiten Masse ist da vorprogrammiert. Doch schon der vorab getätigte Umgang mit «Unsere Wildnis» deutet an, dass man sich für die Doku rund um die Tiere der europäischen Wälder mehr erhofft als am Ende wieder bloß eine cineastische Randnotiz zu sein. Mit Universum wählte man einen Filmverleih von großem Prestige, auch die Organisation der Pressetage und Premiere besitzt die Ausmaße einer Großproduktion. Das lässt darauf schließen, dass alle Beteiligten dieses Projekt unbedingt wollen. Und da sich dieser Eindruck nicht nur durch die gesamte PR-Arbeit, sondern auch durch den Film selbst zieht, profitiert davon vor allem einer: der Zuschauer.

Eine Dokumentation im herkömmlichen, ergo: aufklärerischen Sinne, möchte «Unsere Wildnis» nicht sein. Anders als vergleichbare Tierreportagen geht es den Regisseuren nicht darum, über die Gewohnheiten der Tiere, deren Herkunft oder das Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur zu informieren. Die Filmemacher langweilen weder mit Zahlen oder Statistiken, noch setzen sie sich von vornherein das Ziel einer Botschaft, worauf ihr Werk denn hinauslaufen soll. Stattdessen fühlt sich „Unsere Wildnis“ wie eine einzige, lange Momentaufnahme an, in denen Highlight auf Highlight folgt. Die Kameraarbeit ist phänomenal, denn Bilderkünstler Eric Guichard («Paris, je t’aime») begibt sich mit seinem Filmequipment – im wahrsten Sinne des Wortes – ganz nah ran ans Geschehen.

An unserem Film haben insgesamt rund 400 Leute mitgewirkt. Ein Großteil von ihnen sind Spezialisten, die die Tiere sehr genau kennen und wissen, was zu filmen möglich ist. Es gab bei den Dreharbeiten entsprechend kaum negative Überraschungen, weil die Tiere keine Angst hatten und wir drehen konnten, was wir vorab geplant hatten.
Die Regisseure auf die Frage, wie genau sich die Arbeit an dem Projekt vorab planen ließ
Dazu gehört auch, dass er sich schon mal mitten hinein in ein tobendes Wolfsrudel begibt und Szenen von kämpfenden Wildpferden eine solch pulsierende Wucht entfalten, dass man sich gar nicht vorstellen möchte, was für ein Risiko die Verantwortlichen eingegangen sein müssen, um die Bilder einzufangen, die «Unsere Wildnis» mit purer Selbstverständlichkeit präsentiert. Doch diese Selbstverständlichkeit kommt nicht von ungefähr. Wie uns die Regisseure im Interview verrieten, bestand das Team um «Unsere Wildnis» aus rund 400 Leuten, von denen ein Großteil Experten auf dem Gebiet einzelner Tierrassen sind. Nur so konnte es den Machern gelingen, all diese spektakulären Szenen einzufangen, ohne Angst haben zu müssen, dass es für sie gefährlich werden könnte.

Die Bandbreite der gezeigten Ereignisse ist in «Unsere Wildnis» enorm. Von einer hetzerischen Wolfsjagd über eine live vor der Kamera stattfindenden Rehkitzgeburt bis hin zu kämpfenden Bären beinhaltet der Dokumentarfilm eine große Menge an Momenten, die es so, vollkommen ohne einen verklärenden Kontext, bislang noch nicht zu sehen gab. Die große Stärke an «Unsere Wildnis» ist die pure Schönheit, was sowohl auf die visuellen, als auch auf die akustischen Qualitäten zutrifft. Der Score von Bruno Coulais («Die Melodie des Meeres») verschmilzt so sehr mit den Umgebungsgeräuschen des Waldes, dass er die meiste Zeit über kaum zu hören ist und wenn doch, dann integriert er sich reibungslos in die ohnehin schon berauschende Klangkulisse. So entsteht ein Seherlebnis, das dem Zuschauer das Gefühl gibt, für eineinhalb Stunden die pure Natur genießen zu können. Sebastian Kochs vorsichtiges Voice-Over gliedert sich perfekt in die ohnehin schon perfekte Ausarbeitung sämtlicher technischer Faktoren ein.

Die Nähe, die wir im Film zu den Tieren aufbauen, ist real. Es war uns durch genaue Planungen möglich, mit der Kamera ganz nah an das Geschehen heranzugehen. Natürlich entwickelt sich so in manchen Fällen auch eine Verbindung zu den Tieren, die man filmt.
Die Regisseure auf die Frage, wie authentisch die Filmaufnahmen sind
Als einziger Wehrmutstropfen erweist sich in «Unsere Wildnis» allerdings die Schnittarbeit, durch die hier und da der Eindruck einer leicht überstilisierten Erzählweise entsteht. Im Großen und Ganzen ist gerade die äußerst zurückhaltende Inszenierung das große Alleinstellungsmerkmal des Films. Doch zwischendurch kommt es immer wieder vor, dass die Macher es sich offenbar nicht nehmen ließen, vereinzelt kleine Geschichten zu erzählen. Wenn etwa das Rehkitz geboren wird und zwischendurch immer wieder Bilder von aus den Bäumen schauenden Vögeln eingeblendet werden, dann soll hier ein Zusammenhang erzeugt werden, wo kein Zusammenhang existiert. Das gaben auch die Regisseure zu, die gleichzeitig darauf verwiesen, so eine Art Märchenfeeling zu erzeugen. Das ist den beiden Filmschaffenden definitiv gelungen, beißt sich jedoch auch mit dem eigentlichen „wir schauen, was passiert“-Konzept. Trotzdem bleibt auch dieser Tadel Meckern auf sehr hohem Niveau; erst recht, weil dieser Punkt es dem Zuschauer sogar leichter macht, das Gesehene zu verarbeiten. «Unsere Wildnis» ist trotzdem ein andersartiges, feines, äußerst angenehmes Seherlebnis.

Fazit: In betörenden Bildern entführen uns die französischen Dokumentarfilm-Pioniere Jacques Perrin und Jacques Cluzaud auf eine zeitlose Reise durch die faszinierende Schönheit der Natur. Dabei gefällt vor allem die fast vollständige Reduktion auf die Bilder sowie die Geräuschkulisse. Musik- und Off-Kommentar halten sich so sehr zurück, dass man das Gezeigte fast unverfälscht genießen kann. Damit wirkt «Unsere Wildnis» wie aus der Zeit gefallen und empfiehlt sich insbesondere Dokumentarfilm-Gourmets.

«Unsere Wildnis» ist ab dem 10. März in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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