Die Kino-Kritiker

«Annie»

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Der Regisseur der Jugendkomödie «Einfach zu haben» zielt nun auf etwas jüngere Kinobesucher ab und präsentiert mit «Annie» eine Musical-Neuverfilmung, die besser ein gesangsloser Familienspaß wäre.

Cast und Crew

  • Regie: Will Gluck
  • Darsteller: Quvenzhané Wallis, Jamie Foxx, Rose Byrne, Bobby Cannavale, Cameron Diaz, Adewale Akinnuoye-Agbaje, David Zayas
  • Produktion: Will Smith, Jada Pinkett Smith, Shawn "Jay-Z" Carter, Caleeb Pinkett, James Lassiter, Lawrence "Jay" Brown, Tyran "Ty Ty" Smith
  • Kamera: Michael Grady
  • Schnitt: Tia Nolan
  • Drehbuch: Will Gluck, Aline Brosh McKenna
  • Original-Broadwaylieder: Charles Strouse & Martin Charnin
  • Musikalisches Neuarrangement für den Film: Sia & Greg Kurstin
  • Neue Filmsongs: Sia & Greg Kurstin, Sia & Stargate
Vom Tellerwäscher zum Millionär – das ist die viel zitierte Zusammenfassung des amerikanischen Traums. In der US-Kultur gibt es jedoch eine weitere, viel besungene Variation dieser „Von ganz unten nach ganz oben“-Wunschvorstellung: Die Geschichte der kleinen Annie, einer bemitleidenswerten Waise, die bei einem reichen, gutmütigen Mann ein neues Zuhause findet. In den 20er-Jahren erstmals in Form eines Comicstrips erzählt und in den 30ern sogleich zweifach fürs Kino adaptiert, fand diese Geschichte 1977 den Weg auf den Broadway. Seither ist das gelockte Mädchen unmöglich aus der amerikanischen Popkultur wegzudenken.

Mehr noch: Die ironiefreie, warmherzige Story und die fast schon unverschämt eingängigen Lieder sind in den Staaten geradezu Heiligtümer. In den Jahrzehnten nach der Erstaufführung hielten unter anderem eine Kino- und eine Fernsehverfilmung die Musik im kollektiven Bewusstsein. In den 90ern machte außerdem der von Jay-Z produzierte Chartstürmer „Hard Knock Life (Ghetto Anthem)“ als Hip-Hop-Cover einer «Annie»-Nummer einen Teil des Musicals auch auf dieser Seite des großen Teichs ein gutes Stück populärer.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Hollywood an eine neue Adaption heranwagt – und diese Stunde hat nun geschlagen. Obwohl die unter anderem von Will Smith produzierte «Annie»-Variante streng genommen kaum etwas mit Wagemut zu tun hat. Die von «Einfach zu haben»-Regisseur Will Gluck inszenierte Neuverfilmung verlegt zwar das während der Großen Depression angesiedelte Musical-Geschehen in die Gegenwart. Zeitgenössische musikalische Akzente setzt die Sony-Produktion aber nicht. Trotzdem dürfen Anhänger klassischer Musicals wenig von diesem Film erwarten. Denn genauso, wie der Mut zum Umdichten der Originalsongs fehlt, lässt die neue «Annie» auch ein ehrliches Bekenntnis zum Musicalhandwerk vermissen. Sämtlichen Liedern wurde ihre orchestrale Wucht genommen, stattdessen erklingt die instrumentale Begleitung komprimiert oder gar auf das Niveau von Radiogedudel normalisiert.

Es ist ein Symptom, das bezeichnend für dieses 65 Millionen Dollar schwere Unterfangen steht. Denn die Verantwortlichen sind einerseits zu feige, die geheiligte Musik dieser „Rags to riches“-Story aufzugeben oder von Grund auf zu erneuern. Es könnte ja die Fans verärgern. Andererseits haben die Produzenten zu wenig Vertrauen in die altmodische Vorlage, um sie zu zelebrieren. Manchen Kids könnte das ja zu piefig sein. Dadurch manövriert sich dieser «Annie»-Film in eine Zwickmühle und bietet niemandem im Publikum vollauf das, was er verdient hat. Dabei gibt der Film eine ganz passable Familienkomödie ab – wären da halt nicht die tumben Musicalpassagen.

So, wie Regisseur/Autor Will Gluck sowie Ko-Autorin Aline Brosh McKenna die Handlung erzählen, käme sie mühelos ohne die Gesangspassagen aus: Die 10-jährige Annie (Quvenzhané Wallis) sehnt sich zwar nach einer Familie und muss tagtäglich die grausigen Erziehungsmethoden ihrer Pflegemutter Colleen Hannigan (Cameron Diaz) durchstehen, trotzdem behält sie tapfer ihren Optimismus. Als Will Stacks (Jamie Foxx), seines Zeichens Telekommunikations-Gigant und Kandidat für das New Yorker Bürgermeisteramt, sie eines Tages vor einem Autounfall bewahrt, gewinnt Stacks dank eines Webvideos dieser Tat massiv an Zuspruch unter den Wählern. Also bittet er darum, die Vormundschaft für Annie übernehmen zu dürfen – zunächst aus reinem Kalkül, doch sehr schnell erweicht die Waise sein Herz …

Über die deutsche Synchronfassung

In der deutschen Synchronfassung werden sowohl die Dialog- als auch die Gesangsparts übersetzt. Die Lokalisierung der Musicalnummern durch die Songtexter Christine Roche, Klaus-Rüdiger Paulus, Thomas Amper ist weitestgehend adäquat und treffend, allein die Übertragung von "It's a Hard Knock Life" zu "Unser Leben ist voll krass" bereitet leichte Bauchschmerzen. Die Titelrolle wird von «The Voice Kids»-Teilnehmerin Chelsea Fontenel gesprochen und gesungen, die sich als sehr talentierte Synchronkünstlerin herausstellt. Einen kleinen Casting-Fauxpas leistete sich das Synchronstudio derweil bei Jamie Foxx: Als Gesangsstimme erhielt er Manuel Straube – einen fähigen Künstler, der bereits zahlreiche Synchronrollen als Sprecher und Sänger meisterte. Bloß passt sein Timbre überhaupt nicht zu Foxx.
All dies läuft ungefähr wie folgt ab: Erst wird eine Situation eingeführt und etwas über eine der Figuren vermittelt. Dann wiederholt ein Lied diese Informationen, ehe Dialogszenen die Handlung und Charakterentwicklung weiter vorantreiben. Bis ein Song wieder die Zusammenfassung liefert. Und so weiter, und so weiter … Genau das ist ein fataler Fehler für jedes Musical, denn dadurch geht der erzählerische Schwung verloren. Wenn sämtliche Lieder irrelevant sind, werden sie zwangsweise und spürbar zum Ballast – was in diesem Fall nicht Schuld der Vorlage ist, da diese grundsolide geschrieben ist. Es ist das neue Skript, dass den Sinn sämtlicher Gesangspassagen vorwegnimmt und sie somit zu gewaltigen Bremsklötzen verkommen lässt. Bedauerlich, denn der Film einen akzeptablen Erzählfluss, sobald für längere Zeit die Songs ausbleiben. Zudem haben die Dialoge zwischen Annie, Will Stacks und dessen Assistenten Grace (goldig: Rose Byrne) und Guy (kernig: Bobby Cannavale) sowie Chauffeur Nash (Adewale Akinnuoye-Agbaje) eben nicht nur so manchen Gemeinplatz inne, sondern vor allem auch viel Witz.

Auch die Umsiedelung der Story ins 21. Jahrhundert ist gelungen, so werden die Allgegenwärtigkeit von Social Media und die Funktionsweise des modernen Wahlkampfes (für einen Familienfilm) recht süffisant eingearbeitet. Dank mehrerer Seitenhiebe aufs heutige Leben lässt sich auch so manch unkritischer Plotaspekt über Hedonismus und Telefonüberwachung verzeihen. Cameron Diaz ist als versoffene, verruchte Pflegemutter indes ein kleiner Problemfall: Wann immer andere Figuren auf sie reagieren, sind gute Lacher drin, wenn sie aber selber im Zentrum steht, trägt Diaz ungeheuerlich dick auf, so dass ihre Figur schnell lästig wird. Lachhaft sind zudem die gelegentlichen ironischen Kommentare auf Musicals, die bemüht, deplatziert und tonal unausgegoren sind. Umso stärker ist dafür eine kleine Gastsequenz der «The LEGO Movie»- und «22 Jump Street»-Regisseur Phil Lord & Chris Miller, die sich über moderne Jugendbuchadaptionen lustig macht.

Mit einer gutherzigen, ehrlich gemeinten Prise Wohlfühlkitsch und den wohlig aufgelegten Akteuren, die ansteckende Freude an der Situationskomik dieses Films haben, wäre «Annie» recht sympathisches Familienkino. Nur sind da halt die ganzen Gesangseinlagen, die keinen erzählerischen Beitrag leisten, allesamt ideenlos in Szene gesetzt sind und zudem mit leblosem Arrangement dahinplätschern.

Wer Musicals liebt, ist daher mit den anderen beiden «Annie»-Musicalfilmen besser bedient – die Songs klingen in ihnen besser, sind nahtlos integriert und zudem lebhafter. Wer Musicals verabscheut, wird dieser «Annie» eh nichts abgewinnen können. Für wen also soll dieser Film sein? Vielleicht für Leute, die lauwarm zu Musicals stehen. Jene bekommen hier eine süße, belanglose Komödie mit einigen denkwürdigen Sprüchen – die ab und an zu einem halbherzig umgesetzten Musical wird.

Fazit: Tut nicht weh, tut nichts zur Sache: «Annie» hat so seine Momente und bietet daher adäquate, vorhersehbar-fröhliche Familienunterhaltung. Allerdings fehlt aufgrund der unmotivierten Gesangspassagen jeglicher Pepp.

«Annie» ist ab dem 15. Januar 2015 in zahlreichen deutschen Kinos zu sehen.

Kurz-URL: qmde.de/75623
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