Hingeschaut

More Drama: Ein «Aktenzeichen» im RTL-Stil

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Das neue Fahndungsformat «Augenzeugen gesucht» mit Leo Martin bot das, was man sich unter einem privaten «Aktenzeichen XY» vorstellt – nur mit sehr, sehr wenig Leo Martin.

Das Besondere an unserer Sendung ist, dass auch Angehörige, Opfer und Zeugen zu Wort kommen. So sprechen wir den Zuschauer auf einer emotionalen Ebene an und erhoffen uns mehr Aufmerksamkeit und neue Ermittlungsansätze
Leo Martin über «Augenzeugen gesucht»
Man stelle sich vor: Man hat als Fernsehproduzent die Aufgabe für das Privatfernsehen ein Format zu machen, das bei der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz nicht nur seit x-Jahren erfolgreich läuft, sondern dort auch eine echte Institution ist. So erging es den Verantwortlichen der DEF Media, die am Mittwoch im RTL-Programm ihre Version von «Aktenzeichen XY» präsentierten. Die ZDF-Fahndungssendung läuft seit Monaten stark, holt bei den 14- bis 49-Jährigen regelmäßig das Doppelte des normalen Senderschnitts. Ein paar Prozentpünktchen mehr und auch RTL hätte überdurchschnittliche Quoten. Doch was muss man machen, um diese paar Prozente noch rauszukitzeln? Wie weit darf man weg vom Original – und wie emotional muss eine solche Sendung sein?

Zunächst einmal: Nein, bei RTL entschied man sich nicht, die Sendung sonderlich modern und mit zig Grafiken arbeiten zu lassen. Einzig Google Maps taucht öfter auf, um Wege und Ortschaften zu visualisieren. «Augenzeugen gesucht» ist auch nicht im «CSI»-Zeitalter angekommen, hat kein aufwändiges Studio. Vielmehr entschied man sich sowohl Studio als auch Moderator sehr im Hintergrund zu halten. Präsentiert wird das Format von Leo Martin, der im Sommer in «Verfolgt» auftrat und die Produktion zum Erfolg machte. Für «Augenzeugen gesucht» ist er aber nicht mehr als Mittel zum Zweck. Ja, es sind die Marktforschungen, die bei Magazin-Sendungen immer sagen, dass das Auftauchen des Moderators ein Umschaltimpuls ist. Wann immer im Studio und somit nicht so bildgewaltig geschwafelt wird, zappt der 0815-Gucker um. Deshalb darf Martin darf zu Beginn betonen, dass er Fahndungsexperte ist und diese Sendung Deutschland sicherer machen soll - dann aber nur noch in kurzen Sequenzen zum nächsten Fall überleiten.

Die Intention wird hier schon klar: «Augenzeugen gesucht» setzt mehr auf die Emotionen der Zuschauer – Mitgefühl und auch ein bisschen Angst sollen damit einhergehen. Vor allem das Spiel mit der Angst des Zuschauers kann für die Sendung aber zu einem gefährlichen werden. Anders als bei «Aktenzeichen XY» kommen Angehörige oder Opfer selbst und die Polizei in den langen Einspielfilmen zu Wort. In der Pilotausgabe, die drei Verbrechen thematisierte, hatte jeder dieser Filme eine ungefähre Laufzeit von 15 Minuten. Fall eins beschäftigte sich mit einem Mord aus dem Jahr 2007 – damals wurde die Besitzerin einer Kölner Salatbar nachts umgebracht. Neben ihrem Vater spricht in dem Film auch der Leiter der Mordkommission.

Minutiös werden die letzten Schritte von Anke S. nachgezeichnet – RTL hat auch Zugriff auf Bilder Überwachungskamera des Kölner Bahnhofs bekommen. Der Einspielfilm versucht durch diese exakte Nachzeichnung zwar seriös zu sein, bricht aber zu oft ins Emotionale aus. Der Off-Sprecher erwähnt, dass die Kripo damals 20 Stunden täglich arbeitete – spricht wieder und wieder von „plötzlichen Hoffnungsschimmern“ in der Ermittlungsarbeit – etwa als man die DNA einer liegengelassenen Kippe bekommen konnte. Letztlich ergab diese aber keinen Aufschluss über den Täter – und auch ist nicht gewiss, ob das Rauchwerk überhaupt vom Mörder stammt. Später wird darüber spekuliert, eventuell hätten drei Drogenjunkies den Laden überfallen – aber auch das ist nur eine Theorie von vielen.

Während sich «Aktenzeichen XY» auf das konzentriert, was sicher ermittelt wurde, ist es RTL wohl ganz recht auch einige (wilde) Spekulationen in den Film zu packen. Am Ende wird alles zwar noch einmal kompakt in Worten wiedergegeben, es fehlt aber eine visuelle Aufbereitung der wichtigsten Fakten. Bei «Aktenzeichen» passiert genau dies stets im Studio – RTL aber blendete via großer Grafik nur die Telefonnummer der entsprechenden Kripo in Köln ein. Dass der Film mit den Worten „Anke ist tot – damit muss sich die Familie abfinden“ endet, ist typisch für das Format, das neben dem Zeugengesuch eben zu stark auf Emotionen setzt.

Der zweite Film ist sogar in noch höherem Maße dramatisch und mitunter sogar gruselig. Es geht um den Fall einer vergewaltigten Schülerin aus dem Jahr 2005, die in «Augenzeugen gesucht» (natürlich) selbst zu Wort kommt. Man sieht die Darstellerin im rekonstruierten Film blutverschmiert durch die Straßen taumeln – dramatische Musik, Schockmomente, als der Täter sie packt. Eine Expertin erklärt dem Zuschauer, eine Vergewaltigung gehe einher mit Todesangst. Wieder dramatische Musik. In einem normalen Krimi mag das noch halbwegs verdaulich sein, bei «Augenzeugen gesucht» kommt aber hinzu, dass der Zuschauer weiß, das Geschehen ist real und der Täter läuft (eventuell in besagter Region) noch frei herum. Vor allem bei diesem Fall mutiert die Sendung sogar eher zum Emotainment (Mischung aus Emotion und Unterhaltung), denn zum reinen Fahndungsformat. Dass das Opfer leidenschaftliche Journalistin ist, früher mit der Mutter allein lebte, hat mit dem eigentlichen Fall und dem Wunsch nach einer Ausklärung nichts zu tun. Diese "Zusatzinfos" dient aber zur Bidnung zwischen Opfer und Zuschauer, die RTL deshalb wichtig ist, damit die Leute auf dem Sofa auch ja nicht umschalten.

«Augenzeugen gesucht» verfolgt ein ehrsames Ziel – nämlich die Aufklärung von Verbrechen. Vor allem aber verfolgt es das Ziel, durch spektekuläre Darstellung einen gewissen Voyeurismus zu bedienen und die Spannungskurve hochzuhalten. Die hochwertig produzierten Einspielfilme können sich von der Bildsprache her sehen lassen, hätten sich aber lieber auf das Wesentliche konzentriert. Somit ist die neue RTL-Sendung letztlich das, was man sich im Vorfeld unter einem «Aktenzeichen XY» im Privatfernsehen vorgestellt hat und was letztlich eventuell auch die fehlenden Prozentpunkte herauskitzeln könnte. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass sich die ZDF-Redaktion (abgesehen von der Bildsprache der Filme) nicht allzu viel davon abschaut.

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