Fernsehfriedhof

Der Fernsehfriedhof: Dr. Sommer – Der Talk

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Quotenmeter.de erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 240: Die skandalträchtige Daily Talkshow für pubertierende Jugendliche und ihre überforderte Moderatorin.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des Beweises, dass manche Produzenten nicht davor zurückschrecken, sogar Minderjährige im Fernsehen aufeinander zu hetzen.

«Wildfang» wurde am 14. Oktober 1996 bei RTL II geboren und entstand zu einer Zeit, als der Kanal auf der Suche nach einer festen Zielgruppe und damit einem eigenen Profil war. In der Fokussierung auf Jugendliche und Teenager glaubte man damals, eine lukrative Ausrichtung gefunden zu haben, denn schließlich schlug sich «Bravo TV» am Sonntagnachmittag äußerst erfolgreich. Also holte man sich zunächst die interaktive Dating-Show «Heart Attack» vom damaligen Konkurrenten tm3 und läutete mit ihr einen werktäglichen Teenie-Nachmittag ein, der außerdem die Serien «21 Jump Street», «Beverly Hills 90210» und die Soap «Alle zusammen - Jeder für sich» umfasste.

Ein wichtiges Element des Line-Ups sollte zudem ein Daily Talk für Jugendliche bilden, denn gleichzeitig befand sich die deutsche Fernsehlandschaft noch immer im Talkboom. Die Konzeption einer solchen Talkshow, die sich ausschließlich an 14 bis 18jährige Zuschauer richtete und damit ein noch jüngeres Publikum als die „Erwachsenen“-Varianten von Arabella Kiesbauer und Bärbel Schäfer ansprechen wollte, schien somit nicht nur eine logische, sondern vor allem auch eine erfolgsversprechende Konsequenz darzustellen. Damit auch niemandem diese junge Ausrichtung entging, erhielt die Sendung den Untertitel «Der Teenie-Talk».

Weil das Erwachsenwerden auch stets mit Abgrenzungen zu den Eltern verbunden ist, versuchte das Produktionsteam ebenfalls bewusst mit typischen Elementen des Mutter-Genres zu brechen. So erhielt das Format als bis heute einzige Variante des Daily Talks mit «Wildfang» einen Titel, der sich auf die Zielgruppe und nicht auf einen Moderator bezog. Das wurde auch darin deutlich, dass die eigentliche Hauptmoderatorin zuweilen vertreten wurde. Überwiegend leitete jedoch die ehemalige Trickfilmzeichnerin Iris von Carnap die Gespräche. Sie war optisch eines dieser typischen 90er-Girlies und meist weniger locker und sprachgewandt als ihre Gäste. Inmitten der Jugendlichen und dem Publikum, das ebenfalls vollständig aus Teenagern bestand, war sie stets die einzig sichtbare Erwachsene, denn auch spießige, volljährige Experten wurden bewusst nicht hinzugezogen. "Mit meinen 24 Jahren bin ich für die Gäste und Zuschauer Autorität genug", sagte sie damals selbstbewusst, "ich stehe so zwischen Mutter und älterer Schwester."

Im Unterschied zu «Hans Meiser», «Ilona Christen» und Co. nahm man zudem von übergreifenden Themen für die nur halbstündigen Ausgaben Abstand, sondern platzierte die Geschichten lose nebeneinander. Während die Protagonisten bei der Konkurrenz gewöhnlich in wohnzimmerähnlichen Kulissen Platz nahmen, geschah dies bei RTL2 in einem schrillen Ambiente auf coolen Sitzsäcken.

Auch wenn es keine konkreten Mottos gab, einte alle Auftritte, dass sie sich irgendwie um die Bereiche Liebe und Beziehungen drehten. Besprochen wurden dabei alle Facetten von Betrug, Eifersucht, Erotik und Sex bis zu Erfahrungen mit Homosexualität oder Dating-Lines. Allerdings ging es nur selten um die positiven Seiten, sondern meist um Konflikte zwischen Partnern oder Rivalen, die regelmäßig im Studio aufeinander trafen und ihre Streitigkeiten vor laufenden Kameras austrugen.

Für außenstehende, ältere Zuschauer wirkten viele Spannungen oft nichtig und belanglos, also wie typische Teenie-Dramen. Dennoch versuchte das Team der Show ihren Gästen und dem Publikum fortwährend das Gefühl zu geben, deren Probleme ernst zu nehmen. Auch Iris von Carnap zeigte sich stets verständnisvoll und sichtlich bemüht, aufrichtig wirken zu wollen. „Liebeskummer tut weh, egal ob mit 14 oder 40“ lautete daher einer ihrer typischen Sätze. So sehr sie sich in die romantischen Verstrickungen ihrer Gäste hineinversetzen konnte, so überfordert war sie jedoch an den entscheidenden Stellen in der Regel.

Obwohl es insgesamt in der Show recht wortkarg zuging, weil sich viele ohnehin schon maulfaule Teenager vor den Kameras sichtlich unwohl fühlten, gab es immer wieder bedenkliche Situationen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend berichtete in einer Studie etwa von einem Mädchen, das von ihrer schlimmen Ex-Beziehung berichtete, in der sie von ihrem Freund geschlagen worden sei und auch an Selbstmord gedacht habe. Ihre Schilderungen wären dabei nicht nur weitgehend von der Moderatorin unkommentiert geblieben, sondern es sei nach der Befragung des betreffenden Ex-Freunds das Bild vermittelt worden, dass das Mädchen an ihrer Misshandlung und Hilflosigkeit selbst Schuld ist. Bemängelt wurden zudem Momente, in denen einzelne Gäste ohne Möglichkeit des Einspruchs abgeurteilt wurden. Darüber hinaus wurde kritisiert, dass in einer Ausgabe Homosexualität als Notlösung für Mädchen angepriesen wurde, um sich dem Stress mit Jungs entziehen zu können.

Wie unsensibel zuweilen mit den meist minderjährigen Gästen umgegangen wurde, zeigte ein Ausschnitt, der später auch in «Kalkofes Mattscheibe» zu sehen war. Darin sagte nämlich ein Jungendlicher zu seiner untreuen Freundin, dass es ihm immer schlecht würde, wenn er sie nackt sieht. Als die anwesende Freundin daraufhin unter Tränen aus dem Studio rannte, kommentierte von Carnap dies mit den Worten: „Ja, jetzt haben wir einen Gast weniger.“ In der Folge warf Oliver Kalkofe dem Format vor, die regulären Talkshows noch unterboten zu haben, indem „man sich als Gäste diejenigen holt, die sich noch nicht richtig wehren können und erst beim Anschauen der Videoaufzeichnung ein paar Jahre später merken werden, wie dreist sie hier eigentlich verarscht wurden. Bis dahin allerdings wird es noch viele weitere unerträgliche Folgen geben, viele Tränen und Ursachen für spätere Traumata [...]“

Dennoch verzeichnete die Produktion eine kleine Fangruppe und bewegte gegen 16.30 Uhr regelmäßig rund 400.000 Zuschauer zum Einschalten. Für die ambitionierten Ziele des Senders war dies allerdings zu wenig, denn schon nach wenigen Wochen wurden Ankündigungen für eine Verlegung und nach rund einem halben Jahr die endgültige Einstellung der Sendung bekannt.

«Wildfang» wurde im Frühjahr 1997 beerdigt und erreichte ein Alter von 115 Folgen. Die Show hinterließ die Moderatorin Iris von Carnap, die später nicht mehr regelmäßig im Fernsehen auftauchte und stattdessen versuchte, sich als bildende Künstlerin zu verwirklichen.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einem wahren TV-Pionier und seiner täglichen Quizshow.

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