Hingeschaut

Bei Sat.1 regieren Trash und Chaos - «Annica Hansen» lädt zum Talk

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Der neue Daily-Talk war Vieles, aber nichts, das Deutschland gebraucht hätte. Im Genre Talk haben sich die Macher nur wenig ganz Neues einfallen lassen. Dafür präsentierte Sat.1 sehr glaubwürdige Laiendarsteller und eine Moderatorin mit Potential.

Manchmal fällt es schon noch schwer: Das was früher offen verpönt war, wird nun ganz gezielt eingesetzt, um Aufmerksamkeit und somit Quote zu bekommen: Es ist inzwischen immer öfter der Fall, dass das Nachmittagsprogramm im deutschen Fernsehen zur Freak-Show verkommt (verkommen muss). Nur das, was möglichst ungewöhnlich, schrill und bescheuert ist, scheint beim Großteil des Publikums überhaupt eine Chance zu haben. Und so kann man den Machern der Constantin Entertainment nicht einmal vorwerfen, was sie da in «Annica Hansen – Der Talk» anstellen. Ganz bewusst verkommt eine komplette Stunde Programm zum Freak-Fernsehen vom Feinsten. Nicht nur auf der Bühne, die Freaks sitzen auch im Publikum, das offenbar ebenfalls komplett gecastet ist.

Schon nach den ersten Minuten fällt auf: Das Publikum soll kräftig mitmischen, Dinge hereinrufen, Stellung beziehen. Die ersten Gäste haben die Bühne betreten, es wird gemeckert, geschimpft und vor allem wild durcheinander geredet. Und vom Publikum kommen Zwischenrufe. Das ist nicht ansehnlich, das ist wie eine Art Unfall, wo man halt trotzdem hinguckt. „Das ist reines Chaos“, beschreibt es eine anfangs total überforderte Moderatorin selbst. Annica Hansen, Newcomerin in diesem Genre, ist das nicht vorzuwerfen. Auf der Bühne sitzt eine Darstellerin, die eine Mutter verkörpert, die ihrem Sohn die Freundin ausreden will. Die Rockerbraut darf später auf einem Motorrad ins Mini-Studio fahren und sich in stylischer Nieten-Lederjacke zu ihrem Ferdi setzen. Nach einigen weiteren Minuten des wilden Durcheinanderschreiens folgt die wundersame Verwandlung.

Die Rockerin, die den Ferdi übrigens bald auch heiraten wird, hat unter der Rocker-Kluft ein wunderschönes blaues Kleid versteckt und erscheint am Ende in ganz anderer Optik. Das gefällt der Mutter so gut, dass sie darauffolgenden Gästen sogar Tipps gibt und mehr Toleranz fordert. Ja, das ist so fernab von aller Wirklichkeit, dass es de facto nur geschrieben sein kann. Auch die weiteren Fälle (Bäuerin sucht Bauern für ihre Tochter und kleines Mädchen sucht Freundin für Papa) strotzen vor Schwächen im geschriebenen Ablauf. Aber man weiß ja: Autounfall, Hinschauen.

Zu Gute halten muss man der Produktion aber durchaus, dass die Laiendarsteller ihre Sache durch die Bank sehr gut machen und sie im Grunde genommen als solche kaum zu enttarnen sind. Die beiden Sicherheitsleute, die dem Talk eine etwas krawalligere Atmo verschaffen sollen, wirken vollkommen fehl am Platz – lediglich das öfter mal herumschreiende Publikum erinnert ein wenig an die US-Krawall-Show «Jerry Springer». Auf der Bühne geht es – vom ständigen Durcheinanderreden – recht gesittet zu.

Allgemein bietet die neue Talkshow eigentlich nichts, über das die Branche schon 2008/2009 sprach, als erste Pläne zur Wiederbelebung des Genres Daily-Talk aus den Schubladen geholt wurden. Da gibt es eine meinungsstarke Moderatorin, die klare Worte findet und das aussprechen soll, was zu Hause auch der Zuschauer denkt. Was in den jahrelang erfolgreichen Courtshows der Richter war, soll hier eben die Fragenstellerin übernehmen. Annica Hansen selbst wurde nach anfänglicher Überforderung sicherer, hat aber noch Luft nach oben. Sie bekam die Aufgabe, sich möglichst nah bei den Talkgästen aufzuhalten – so soll Nähe entstehen. Gerne sitzt sie direkt auf der Bühnenkante oder steht unmittelbar davor. Altherkömmliche Talkshows hatten den Moderator immer direkt ins Publikum gestellt. Am Ende erhalten alle Geschichten eine klare Einordnung – entweder in Form eines Happy Ends oder eine moralischen Beurteilung seitens des Moderators oder des Publikums. Auch hier lassen sich Vergleiche mit den Court Shows ziehen.

Heißt: In den vergangenen drei Jahren ist der Branche in Sachen Daily Talk nicht mehr allzu viel eingefallen. Wohl auch deshalb müssen es nun gescriptete Formate sein, um gewisse Gegebenheiten noch weiter überspitzen zu können. Kaum ein wirklicher Teilnehmer würde wohl Sätze wie „Was tust du uns mit diesem Kerl nur an? Wir wollen keinen Kredit von einem Banker, wir wollen einen Bauern!“ auf einer Bühne von sich geben.

In dem zweiwöchtigen Testlauf wird das Format noch ein bisschen sein Tempo finden müssen – gerade zu Beginn der Premierensendung wirkten sowohl die Gäste als auch das Thema sehr schnell verheizt. In vier Minuten passierte so viel wie in manch anderer Sendung in 15 nicht. Am Grundkonzept aber wird man wohl festhalten: Trash in Reinkultur, damit die Menschen möglichst irgendwie hängen bleiben. Die Vergangenheit hat gezeigt: Das kann klappen.

Fraglich wird sein, ob das deutsche Publikum wieder bereit dafür ist, Trash-Geschichten in einem Fernsehstudio serviert zu bekommen. Sollte das der Fall sein, könnte schnell ein neuer Trend eingeleitet sein. Denn: Geschichten, wie man sie aus «Familien im Brennpunkt» kennt, lassen sich in einer festen Location noch einmal billiger und schneller produzieren als draußen auf den Straßen.

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