Fernsehfriedhof

«Krankenhaus Lichtenberg»: Magenschleim beim Abendbrot

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Christian Richter erinnert an all die Fernsehmomente, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 187: Echte Ärzte, echte Patienten und echte Fälle, die zu einem echten Flop für Sat.1 wurden.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir eines ambitionierten Projekts, das an den eigenen, zu hoch gesetzten Ansprüchen zerbrach.

«Krankenhaus Lichtenberg» wurde am 08. Oktober 2001 in Sat.1 geboren und entstand zu einer Zeit, als der Sender auf der Suche nach einem funktionierenden Format für den wichtigen 18.00 Uhr-Sendeplatz war. Die bis zu diesem Zeitpunkt ausgestrahlte zusätzliche Ausgabe der «Quiz Show» hatte nämlich nach dem Weggang von Jörg Pilawa deutlich an Zuspruch verloren. Den Zuschauerrückgang sollte dann eine Sendung aufhalten, die im Krankenhaus-Milieu angesiedelt war, was insofern überraschend war, als dass der Kanal mit seiner täglichen Arztserie «Geliebte Schwestern» einige Jahre zuvor am Vorabend gescheitert war.

Der entscheidende Unterschied zur damaligen Seifenoper war jedoch, dass es sich nicht um eine fiktive Produktion, sondern um eine Doku-Soap handelte, bei der es kein Drehbuch und keine Schauspieler gab. Offenbar versuchte Sat.1 damit auch, auf den Reality-Zug aufzuspringen, der dank «Big Brother» durchs Land brauste. Alle Ärzte, Patienten und Fälle waren angeblich echt und unverfälscht. Daher wurde mit dem Oskar-Ziethen-Krankenhaus in Berlin-Lichtenberg und der zugehörigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof als Kulisse ein echtes Hospital gewählt.

Das Krankenhaus wiederum glaubte, in der Kooperation eine gute Werbeplattform im harten Konkurrenzkampf gefunden zu haben und betonte, dass auf diese Weise, die hohe Qualität deutscher Kliniken gezeigt werden könne. "Wir wagen uns an eine Produktion, die es so noch nicht gab", schwärmte der damalige ärztliche Direktor des Hauses, Dr. med. Gardain, kurz vor dem Start der Sendung. Zugleich versuchte er, die Kritiker des Formats zu beruhigen, indem er zusicherte, dass zwar grundsätzlich alles gezeigt werden könne, es aber keine voyeuristischen Darstellungen geben würde.

Schon ein halbes Jahr vor Ausstrahlungsstart begannen auf dem Campus die Dreharbeiten für die geplanten 60 Folgen. Schließlich mussten genügend spannende Fälle gefunden werden. Die Kamerateams und Redakteure waren daher tagelang bei laufendem Krankenhausbetrieb auf dem Gelände unterwegs und suchten fortwährend fernsehtaugliche Patienten, wobei oft sehr kurzfristig umdisponiert werden musste, denn Notfälle ließen sich nunmal nicht vorausplanen. Darüber hinaus begleiteten sie auch Pfleger, Schwestern, Ärzte und Küchenpersonal, um das komplette Tagesgeschehen in der Klinik einzufangen. Auf diese Weise konnten konstante Bezugspersonen geschaffen werden, die regelmäßig auftauchten, während die meisten Patienten nur kurz im Krankenhaus verweilten.

Gezeigt wurden beispielsweise eine 80jährige Patienten, die ihr Fazit aus dem Leben zog, eine Krankenschwester, die von ihrem Lieblingsschauspieler schwärmte, ein Notarztwagenfahrer, der über fiktive Arztserien sinnierte, ein Koch, der sich darüber beschwerte, jeden Tag das gleiche Essen kochen zu müssen und viele weitere skurrile Geschichten von Rentnern, Ehepaaren und Berliner Originalen. Auf der anderen Seite ging es aber auch um schwerkranke Patienten, die harte Schicksalsschläge verarbeiten mussten und um Todeskandidaten, deren Angehörige vom Ableben nichts wissen wollten. Das stellte die Macher und Zuschauer gleichermaßen vor eine enorme Herausforderung, denn die große Bandbreite der Geschichten sorgte oft für starke Gefühlsumbrüche innerhalb der 30minütigen Folgen. Zuweilen wurde die freudige Geburt eines Babies mit dem Leiden eines Tumorpatienten kombiniert.

Begleitet wurde der Start der Reihe mit aufwendigen Online-Aktivitäten, bei denen unter anderem täglich drei der wichtigsten Fälle noch einmal ausführlich besprochen wurden. Zudem gab es durch eine Kooperation mit „Medicine Worldwide“ auf der Website der Reihe ein ausführliches medizinisches Wörterbuch, bei der man die Ursachen und Heilungsmöglichkeiten von Krankheiten mit Hilfe von Schlagwörtern finden konnte. Geplant waren darüber hinaus Expertenchats und Sprechstunden zu monatlich wechselnden Themen wie Rheuma, Schmerzen oder Wechseljahre sowie ein Quiz zum Thema Medizin. Viele dieser Ideen wurden jedoch nie verwirklicht, weil die Fernsehsendung von Anfang an nur auf eine enttäuschende Publikumsresonanz stieß.

Zu schwierig gestaltete sich offenbar das weite Panorama der gezeigten Geschichten, die von vielen Zuschauern entweder als zu schwerfällig oder als zu banal empfunden wurden. Außerdem konnte nur in den seltensten Fällen ein durchgängiger Handlungsfaden gefunden werden, der mehrere Personen umspannte. Letztlich stellte sich damit das ambitionierte und ehrenhafte Ziel, nur echte, nicht-konstruierte Fälle präsentieren zu wollen, als Stolperstein heraus, denn die Realität war offenbar für eine tägliche Doku-Reihe nicht spektakulär, kohärent und fernsehtauglich genug.

Erschwerend kam die Sendezeit um 18.00 Uhr hinzu. Obwohl die Macher bewusst darauf verzichteten, zu viel „harte Medizin“ und Blut zu zeigen, ging es dennoch um Darmgeschwülste, vereiterte Blinddärme, Magenschleim, Leberentzündungen, Alkoholkrankheiten, Geschlechtsumwandlungen und Chemotherapien. Und wer möchte schon solche Themen beim Abendbrot oder dem Feierabendbier serviert bekommen?

Obwohl die Presse der Reihe durchaus zugetan war und sowohl ihre Echtheit als auch den Mut ihrer Produzenten honorierte, kam sie bei den Zuschauern nur mäßig an. Abgesehen von der Premiere erreichte keine Ausgabe eine Sehbeteiligung von über einer Million Menschen und die Zielgruppen-Marktanteile lagen durchschnittlich nur bei 7,3 Prozent. Als Folge verbannte Sat.1 das Projekt nach nicht einmal zwei Monaten vorzeitig aus dem Programm.

Den Sendeplatz übernahm mit «Schlag 6» zunächst eine improvisierte Abendversion des bewährten «Frühstücksfernsehens», bevor ab April 2002 erneut eine zusätzliche Ausgabe der «Quiz Show» gezeigt wurde. Erst im September 2002 folgte mit «Ströhleins Experten» wieder ein ernsthafter Versuch, den Slot zu beleben, der allerdings ebenso scheiterte. Den Wendepunkt brachte ab März 2003 dann die Einführung der Fake-Krimi-Doku «Lenßen & Partner».

«Krankenhaus Lichtenberg» wurde am 30. November 2001 beerdigt und erreichte ein Alter von 40 Folgen. Im Rahmen des „Medical Mittwochs“ wurde sie aber im Jahr 2012 noch einmal im Verbund mit mit den drehbuchbasierten Serien «Klinik am Alex», «Klinikum Berlin-Mitte» und «Fieber – Heiße Zeit für junge Ärzte» bei Sat.1 Emotions wiederholt. Derweil hatte Konkurrent RTL mit seiner Sendung «Die Kinderärzte von St. Marien», die auf einem ähnlichen Konzept basierte, im Vormittagsprogramm etwas mehr Glück.

Möge die Reihe in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann der Reste-Rampe von ProSieben.

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