Die Kino-Kritiker

«The Artist»

von

Golden-Globe-Gewinner, Kritiker-Liebling und Oscar-Favorit: «The Artist» zeigt, wie ein Stummfilm im Jahre 2012 das Publikum begeistern kann.

Ein Schauspieler lauert hinter der Leinwand eines ausverkauften Kinos. Sein neuster Film nähert sich dem Ende. Gebannt wartet der stilvoll gekleidete Mann auf Applaus. Wir hören bloß beharrliche Stille. Das Gesicht des weltmännisch wirkenden Darstellers hellt sich erfreut auf. Erst nach einem Schnitt auf das wild klatschende Saalpublikum erfahren auch wir, dass die Kinogänger das neuste Leinwandabenteuer unseres charismatischen Gentleman-Akteurs euphorisch aufnehmen.

Mit solch einem gleichermaßen nahe liegenden wie einfallsreichen Trick führt der Regisseur Michel Hazanavicius vor, dass wir uns in einem modernen Stummfilm befinden, und welch erzählerischer Luxus Ton doch eigentlich ist. So weist Hazanavicius das Publikum seines kunstvollen sowie außerordentlich vergnüglichen «The Artist» darauf hin, dass es seine filmischen Gewohnheiten wieder umstellen muss. Denn «The Artist» entsagt, von gelegentlichen Texttafeln abgesehen, solchen alltäglichen Erzählmitteln wie Dialogen oder Hintergrundgeräuschen. Bloß die Filmmusik und das Bild vermitteln die Geschichte. Cineasten geht nun verdientermaßen das Herz auf, mancher Gelegenheitskinogänger wird hingegen völlig verschreckt das Weite suchen. Das sollte er keineswegs! Die Idee eines schwarz-weißen Stummfilms im Jahre 2012 mag zunächst altbacken klingen, aber «The Artist» hält genügend Magie inne, um dem Stummfilm ein breites, neues und junges Publikum zu erschließen.

Zu den wichtigsten Erfolgselementen dieses Neo-Stummfilms gehört Hauptdarsteller Jean Dujardin, der mit seinem 30er-Jahre-Schnurrbärtchen und seinem weiten, bestechenden Lächeln wie eine Mischung aus Gene Kelly, Clark Gable und einem jungen, in die Stummfilm-Ära transferierten Sean Connery aussieht. Ausdrucksstark und facettenreich mimt er den Filmstar George Valentin, der seinem Fan Peppy Miller (Bérénice Bejo) zu einer Leinwandkarriere verhilft. Diese schafft im Tonfilm den endgültigen Durchbruch, während sich George dieser Neuerung verweigert, weshalb sein Stern letztlich verblasst. Durch Dujardins ihm nahezu ebenbürtigen weiblichen Gegenüber Bejo gelingt es «The Artist», nicht nur eine liebenswert melancholische Geschichte über einen in Publikumsungnade fallenden Schauspieler zu erzählen, sondern auch eine magische Liebesgeschichte.

Die zarte Romanze in «The Artist» ist wunderbar einfach gehalten und versprüht durch die begeisterten Schauspieler sowie Michel Hazanavicius' schnörkellose Inszenierung einen Charme, der den meisten Hollywood-Beziehungskisten der letzten Jahre vollkommen abgeht. Diese Liebesgeschichte wird nicht von falscher Wortwahl, lästigen Missverständnissen und verklausulierten Liebesgeständnissen geplagt, sondern entwickelt durch die gewählte Erzählform eine fast schon melancholisch stimmende Leichtigkeit. Die unvermeidlichen Probleme, die sich George und Peppy stellen, sind keine von Filmautoren künstlich erschaffene Hürden, die ein realer Dialog schnell lösen könnte, sondern Schicksal und nachvollziehbare Taten beider Figuren. Somit ist die romantische Ebene von «The Artist» auch viel ehrlicher, als die vieler moderner Produktionen.

Trotz des verdienten Golden Globes für «The Artist» als beste Filmkomödie, ist dieses filmische Wunderwerk kein reiner Spaßfilm. Es ist auch ein Melodrama, das seine Figuren in dunkle, emotionale Ecken führt. Hazanavicius erfüllt seine Geschichte mit leiser Melancholie. Seien es vertane (Liebes-)Chancen oder der Verlust einer Kunstform mit ihrem ganz eigenen Reiz. Dies ergibt einen gleichermaßen berührenden, wie vergnüglichen Filmcocktail, der jeden dafür dankbar sein lassen sollte, dass sich Michel Hazanavicius an der erzählerisch schlichten Glanzzeit des Stummfilms orientierte. Diese Rückkehr der wortkargen Erzählkunst hätte auch in Form eines bemüht avantgardistischen Experiments erfolgen können, dass sich gegenüber dem Publikum echauffieren will. Ein solcher Kunstfilm hätte niemals so eine begeisternde Wirkung entfalten können.

Klar, Michel Hazanavicius macht nicht alles besser als seine großen Vorbilder. So hätte ein Charlin Chaplin diesen Film wohl etwas gestrafft, und so mancher Kinobesucher dürfte sich für George Valentin etwas klarere Handlungsmotive wünschen. Hazanavicius macht jedoch auch so manches besser. Seine Darsteller gestikulieren natürlicher, wackeln nicht so heftig mit ihren Köpfen, wie man es aus einigen Stummfilmklassikern kennt. Und Hazanavicius hat natürlich den Vorteil, sich rückblickend mit einer feinen Ironie der Filmgeschichte und Stummfilmkunst zu nähern.

Man geht in «The Artist», um seine Neugier nach einem modernen Stummfilm zu befriedigen. Wenn man dann erst nach wenigen Minuten von Hazanavicius, Dujardin und Ludovic Bources Filmmusik um den Finger gewickelt wurde, schaut man sich schlicht einen formidablen Film an, ohne andauernd seine mediale Form zu analysieren. Und wenn alles vorbei ist, geht man beschwingt aus dem Kino. Mit einem Grinsen im Gesicht sowie der unstillbaren Lust, seinen filmischen Horizont zu erweitern.

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