Hintergrund

Vorbericht zum «Eurovision Song Contest» – Oder: Das Fernsehen gibt auf!

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Am 14. Mai steigt der Eurovision Song Contest in Turin. Wer gewinnt ist offen, eines steht aber schon jetzt fest: Der Verlierer ist das deutsche Fernsehen.

Am Samstag, den 14. Mai, kommt die Musikwelt in Turin zusammen, um sich beim «Eurovision Song Contest 2022» zu duellieren. Die Musikveranstaltung hat in den vergangenen Jahren zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen, was nicht nur daran lag, dass im vergangenen Jahr der ESC aus Rotterdam so etwas wie der Startschuss für einen Sommer ohne Corona-Sorgen war. Selbst ProSieben erkannte das Potential der Veranstaltung und versuchte im Jahr des ausgefallenen Song Contests, sich einen Teil vom großen Eurovision-Kuchen abzuschneiden, indem man den «Free ESC» – durchaus erfolgreich – ins Leben rief. Bekanntlich hat aber der Winter die Pandemie stärker denn je zurückgeholt, aber das soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Vielmehr soll es um das musikalische Fest gehen, das im vergangenen Jahr die italienische Rockband Måneskin berühmt machte. Doch auch sonst fiel die Veranstaltung durch ein breitgestecktes und buntes musikalisches Spektrum auf, das weit mehr als austauschbare Popsongs zu bieten hatte.

Zumindest thematisch wollte der NDR, der den deutschen Vorentscheid einmal mehr federführend leitete, auf den Rockzug aufspringen. Malik Harris steuert für Deutschland den Song „Rockstars“ bei, der allerdings eher weniger dem Genre Rock zuzuordnen ist als dem gewöhnlichen Pop. So richtig dem Trend der Extravaganz wie es Måneskin oder 2018 die israelische Sängerin Netta („Toy“) vorgemacht haben, will man hierzulande nicht mitgehen. Auch die ARD setzt auf das übliche Personal und schickt ab 20:15 Uhr für den Countdown wieder Allzweckwaffe Barbara Schöneberger auf eine Bühne in Hamburg. Unterstützt wird sie von Max Giesinger, der an einige der größten deutschen ESC-Songs erinnern möchte und sein aktuelles Lied „Taxi“ singen wird, sowie von – wie ihn die ARD beschreibt „one and only Mister ESC" – Thomas Herrmanns. Außerdem spielt der irische Musiker Johnny Logan seine drei ESC-Gewinnersongs aus den 80ern und 90ern („What's Another Year", „Hold Me Now“ und das von ihm komponierte Lied „Why me?“) in einem Medley.



Unter dem diesjährigen Motto „The Sound of Beauty“ meldet sich ab 21:00 Uhr dann die gewohnte Stimme von Peter Urban, der das Finale kommentiert. In Turin auf der Bühne stehen übrigens die italienische Grammy-Gewinnerin Laura Pausini, der Fernseh- und Radiomoderator Alessandro Cattelan und der britische Künstler Mika, die durch den Abend führen werden. Wie oft sie den Satz „12 Points for Germany“ zu hören bekommen werden, ist fraglich. Die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass Harris froh sein darf, wenn er überhaupt ein paar Punkte zusammenklauben kann.

Trotz der aussichtslosen Chance, da Jendrik mit der Quatschnummer „I Don’t Feel Hate“ inklusive tanzendem Mittelfinger ins Rennen geschickt wurde, auf einen deutschen ESC-Sieg war die Veranstaltung für Das Erste im vergangenen Jahr ein großer Erfolg, auch wenn es der am wenigsten beachtete ESC seit 2008 war. 2021 schalteten dennoch 6,53 Millionen Zuschauer ein, was einem Marktanteil von starken 26,7 Prozent entsprach. Bei den Jüngeren kam das Programm ebenfalls sehr gut an und belegte mit 2,83 Millionen 14- bis 49-jährigen Zuschauern grandiose 37,4 Prozent des Marktes, was aber dennoch mehr als fünf Prozentpunkte weniger sind als vor der Pandemie. Auch dank des etwas verkorksten Vorentscheids, der es Anfang März nur auf den letzten Drücker überhaupt ins Hauptprogramm schaffte und größtenteils über die ARD-Popwellen über die Bühne ging, scheint der ESC hierzulande immer weiter an Bedeutung zu verlieren. Zugegeben 9,9 Prozent beim jungen Publikum für Das Erste am Freitagabend sind ein guter Wert, doch eine Gesamtreichweite von nur 2,23 Millionen lässt tief blicken.

Die Programmstrategie der Privatsender wirft Fragen auf
Umso verwunderlicher ist, dass die Konkurrenz-Sender am 14. Mai bereits vorher die weiße Flagge hissen und auf ein ernstzunehmendes Gegenprogramm verzichten. Aus Unterföhring bekommt das Publikum wenig Erquickliches zu sehen. Wohin ist der Mut, ein Alternativ-Programm zu bieten, das 2020 der ARD-Ersatzshow das junge Publikum klaute und auch auf dem Gesamtmarkt nahezu auf Augenhöhe agieren konnte? ProSieben präsentiert um 20:15 Uhr allen Ernstes die acht(!)-stündige Clipshow «Galileo 360° Ranking XXL», die bis morgens um 4:10 Uhr gesendet wird. Sat.1 wiederum greift auf die magische Allzweck-Waffe Harry Potter zurück und sendet am Samstag und Sonntag zur besten Sendezeit die beiden «Heiligtümer des Todes»-Teile, die es erst im November 2021 zu sehen gab. Auch Kabel Eins bleibt sich treu und sendet «9-1-1 Notruf L.A.» und die «MacGyver»-Neuauflage. VOX zeigt sich ähnlich uninspiriert und zeigt «Creed II – Rocky’s Legacy», der bei RTL kurz vor dem Jahreswechsel am späten Sonntagabend zu sehen war.

Und RTL? Der größte Privatsender des Landes, der es einst auch wagte, mit «Dieter – Der Film» das große ZDF-Flaggschiff «Wetten, dass…?» erfolgreich anzugreifen und letztlich mit «Deutschland sucht den Superstar» zum Duell der TV-Riesen bat, verzichtet auf anspruchsvolles Programm und setzt lieber auf ein lustig tanzendes Huhn und einen Rechenaufgaben lösenden Affen. Um 20:15 Uhr ist dort nämlich die vierstündige Sendung «Die faszinierendsten Tiergeschichten der Welt» zu sehen. Ob {i]das[/i] den Riesen «ESC» ins Wanken bringt, darf mehr als bezweifelt werden.

Am 14. Mai gilt zwar das Motto „The Sound of Beauty“, doch passender wäre: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Das gilt zum einen für den deutschen Beitrag zum ESC, der mit Electric Callboy sicherlich spektakulärer hätte besetzt sein können, zum anderen für das deutsche Privatfernsehen – wobei hier das noch passendere Motto wäre: „Wer nicht antritt, hat keine Chance auf den Sieg.“

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