Die Kritiker

«Ostfriesensühne»

von

Vor 15 Jahren ist Ann Kathrin Klaasens Vater erschossen worden. Durch einen puren Zufall stolpert stolpert die Kommissarin förmlich über eine Spur, die sie mit der Frage konfrontiert, ob ihr Vater möglicherweise ein Doppelleben geführt hat. Die ältere Dame, die sie auf diese Spur bringt, stirbt jedoch sehr bald in ihrem Seniorenheim unter verdächtigen Umständen.

Stab

DARSTELLER: Julia Jentsch, Christian Erdmann, Barnaby Metschurat, Kai Maertens, Ernst Stötzner, Andreas Euler, Marie Schönburg, Alexis Salsali, Michael A. Grimm, Anne-Marie Waldeck, Stefan Kurt, Karolina Lodyga
REGIE: Sebastian Ko
DREHBUCH: Florian Schumacher
KAMERA: Christof Wahl
SCHNITT: Thomas Stange
MUSIK: Sebastian Fillenberg
Die «Ostfrieslandkrimis», unter diesem Titel werden die einzelnen Spielfilme der Reihe zusammengefasst, machen es dem Betrachter nicht leicht, sie zu mögen. Nach dem Desaster «Ostfriesengrab» im Februar 2020, konnte ein Jahr später «Ostfriesenangst» mit einem soliden Kriminalfall punkten. «Ostfriesenangst» hatte aber auch einen Raum, in dem sich die Geschichten entfalten konnte und in dem das Trauma der Ann Kathrin Klaasen nur am Rande erwähnt wurde, ohne in seiner bleiernen Schwere den gesamten Raum für sich zu beanspruchen. Im Vergleich dazu überdeckte dieses Trauma die gesamte Handlung des Vorgängerfilmes 2020, degradierte den eigentlichen Kriminalfall zu einer Füllhandlung und ließ die Hauptfigur in einer Art und Weise agieren, die man gemeinhin einen Totalausfall nennen würde. Was noch eine freundliche Umschreibung für das nervige Herumgenöle der Ann Kathrin Klaasen darstellt. Ob Christiane Paul, die diese Ann Kathrin Klaasen in den ersten drei zwischen 2017 und 2019 inszenierten Spielfilmen der Reihe dargestellt hat, dies genau so sah und aus diesem Grund aus der Reihe ausgeschieden ist? Man könnte es ihr nicht verdenken, denn auch im neuen Film ist es die Figur der Ann Kathrin, die durch ihr Handeln immer wieder nervt. Und dann geht es in diesem Spielfilm auch noch einzig und allein um ihren Vater – oder um Ann Kathrins Traumabewältigung.

Ann Kathrin, seit dem vierten Spielfilm von Julia Jentsch dargestellt, sitzt stark erkältet im Vorzimmer einer Arztpraxis. Eine ältere Dame sucht verzweifelt ihre Versichertenkarte und irgendwann schüttet sie entnervt den Inhalt ihrer Handtasche neben Ann Kathrin aus. Zu den Dingen, die auf dem Hocker landen, gehört ein Foto, das einen älteren Mann und eine bedeutend jüngere Frau lachend vor einer Pension in Greetsiel zeigt. Der ältere Mann – ist Ann Kathrins Vater. Die ältere Dame geht Ann Kathrin allerdings ziemlich patzig an, als diese sie wegen des Fotos befragt. Nein, das sei nicht ihr Vater, bellt sie ihr entgegen, und sie müsse es wissen. Er sei schließlich der Verlobte ihrer Tochter gewesen (der deutlich jüngeren Frau auf dem Foto) und diese sei vor Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Schluss. Aus!

Ann Kathrin konfisziert das Foto kurzerhand, stellt Nachforschungen bezüglich der Frau auf dem Abzug an und erfährt auf diesem Weg, dass diese nach einem Badeunfall für Tod erklärt worden ist. Ihre Leiche hat man allerdings nie gefunden. Sie ist offenbar aufs offene Meer hinausgetrieben. Ann Kathrin kommt dies sehr konstruiert vor; vor allem stehen nach ihren Recherchen mehr Fragen im Raum als Antworten. Die einzige Person, die möglicherweise etwas Licht ins Dunkel bringen könnte, ist Gertrud Klocke, die alte Dame aus der Arztpraxis. Diese lebt in einem Seniorenheim. Dass sie ausgerechnet an dem Tag stirbt, an dem Ann Kathrin sie in diesem Seniorenheim besucht, ist der Hauptkommissarin zuviel des Zufalls. Ohne einen richterlichen Beschluss, durchsucht Ann Kathrin das Zimmer der alten Dame und entdeckt ein gut verstecktes Klapphandy, in das nur eine Nummer eingespeichert ist. Kurzerhand wählt sie diese Nummer an.
Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Frau.
„Mama?“

«Ostfriesensühne» fokussiert seine Handlung ganz und gar auf den Fall von Ann Kathrins Vater. Es ist nicht mehr nur eine Geschichte, die parallel zum Fall des Jahres läuft und vor allem mit einem unscharfen Fokus agiert, der nie weiß, welche Geschichte eigentlich erzählt werden soll (siehe «Ostfriesengrab») . Nein, die gesamte Handlung dreht sich um das mögliche Doppelleben des Vaters, der, wie Ann Kathrin bald erfährt, offenbar für einen Mädchenhändlerring gearbeitet hat. Ihr Vater, der aufrechte Polizist: Ein Schleuser, der junge Frauen aus Weißrussland nach Deutschland gelockt hat? Erschossen wurde er bei einem Banküberfall in Gelsenkirchen. Offiziell ist ein Geiselaustausch daneben gegangen, die Situation eskalierte und ihr Vater wurde von einer Kugel tödlich getroffen. Diese Geschichte hat Ann Kathrin nie geglaubt. Zu Recht, wie sich im Rahmen ihrer Recherchen mehr und mehr zeigt. Allein ist das Bild, das sich von ihrem Vater ergibt, verstörend. Dass er anfangs undercover gearbeitet hat, daran gibt es bald keinen Zweifel mehr. Aber hat er eines Tages tatsächlich die Seiten gewechselt? Nicht nur Indizien deuten darauf hin, auch die Aussage einer weißrussischen Prostituierten, die niemand anderen als ihren Vater beschuldigt, sie in die Prostitution verkauft zu haben. So sehr Ann Kathrin dieser Aussage keinen Glauben schenken mag, gibt es doch keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Frau sie anlügen würde. Ann Kathrin muss sich mehr und mehr mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass ihr Vater nicht der Mann gewesen sein mag, als den sie ihn in Erinnerung hat.

Der Tod des Vaters (in den Vorgängerfilmen bislang eher ein Hindernis für eine spannende Storyentwicklung) entwickelt eine durchaus überraschende Intensität, je dunkler die Abgründe werden, in die Ann Kathrin blickt. Schon im viel (und berechtigterweise) gescholtenem «Ostfriesengrab» wurde eine dunkle Seite ihres Vaters angedeutet. Seinerzeit aber schienen die Andeutungen vor allem dazu zu dienen, Ann Kathrin zu provozieren. Nun stellt sich nach und nach heraus, dass an diesen Anschuldigungen eben doch etwas dran ist – oder zumindest dran sein könnte.

Die Dunkelheit, die Ann Kathrin überfällt, je näher sie den Geheimnissen ihres Vaters kommt, spiegelt sich in den Bildern von Kameramann Christof Wahl wider, die dieses Ostfriesland als einen Ort ohne Sonne einfangen. So wie ein grauer Regenschleier über der Szenerie liegt, verdunkelt sich Ann Kathrins Seele mit jeder Minute, die sie den Geheimnissen ihres Vaters näher kommt.
Die «Ostfrieslandkrimis» wären aber nicht die «Ostfrieslandkrimis», gäbe es nicht einige Momente, die zu Schleudertrauma intensiven Kopfschütteln Anlass geben würden. Beispiel: Ann Kathrin stellt sehr früh fest, dass es offenbar in den Reihen der Polizei eine Person gibt, die Informationen nach draußen weiterleitet. Ihre Abfragen bezüglich ihrer verstorbenen Kollegin bleiben auf jeden Fall nicht ihre Privatangelegenheit und vermutlich haben diese Anfragen Gertrud Klocke das Leben gekostet. Gut, das ist nicht Ann Kathrins Schuld. Ein Verräter innerhalb der Polizei? Das ist übel. Und es sollte eine Warnung für Ann Kathrin sein: Was immer sie nun auch unternimmt: Sie muss mit doppelter und dreifacher Vorsicht vorgehen, denn sie muss immer damit rechnen, dass jemand Informationen an eine Person weiterleitet, die offenbar kein Interesse daran hat, dass eine alte Geschichte neu aufgerollt wird.

Wenn Ann Kathrin, um diese Gefahr wissend, zu einem späteren Zeitpunkt der Geschichte einen Anruf erhält, in dem ihr eine für die Ermittlungen relevante Person mitteilt, dass sie sich gerne mit Ann Kathrin treffen würde, wo sollte dieses Treffen dann wohl stattfinden? A: An einem Ort, der der besagten Person einen sicheren Zugang und einen sicheren Abgang ermöglicht, an dem sie eine maximale Sicherheit erfährt? Oder B: Man trifft sich in der Abenddämmerung irgendwo am Hafen auf offener Fläche, wo man von Uferscheinwerfern in ein hübsches Licht getaucht wird?
Natürlich gäbe es auch eine Möglichkeit C – man telefoniert einfach miteinander oder trifft sich zu einer Zoom-Konferenz, bei der die unbekannte Person dann über einen Anonymisierungsdienst ihren Standort verschleiert. Aber Deutschland hat es bekanntlich nicht so mit der Digitalisierung, es bleiben also nur die Möglichkeiten A und B.

Spoiler: Ausgewählt wird A – nicht!

Solche Momente demontieren immer wieder die Figur der Ann Kathrin Klaasen, denn sie lassen sie immer wieder als eine ausschließlich von ihren Gefühlen getriebene Ermittlerin erscheinen, die ihr eigenes Trauma über alles stellt. Über die Befindlichkeiten ihrer Kollegen, ja über das Leben der Menschen, die sie durch ihre Nachforschungen in Gefahr bringt. Trauma hin, Trauma her: Menschen wie sie nennt man Egoisten.

Die Geschichte des Vaters ist packend, die Bildgestaltung ist exquisit, atmosphärisch ist das alles A-Fernsehen. Dennoch scheitert «Ostfriesensühne» am Ende gnadenlos an seiner nervenden Hauptfigur.

Am Samstag, 02. April 2022, 20.15 Uhr, ZDF

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