Interview

Thilo Hagendorff: ‚Schweine durchleben schreckliche Grausamkeit‘

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Zum Sommer gehört auch das Grillen mit der Familie. Hagendorff hat sich mit dem Fleischverzehr in seinem Buch kritisch auseinandergesetzt.

Welche Rechte haben Tiere in unserer Gesellschaft?
Es gibt umfangreiche Tierschutzgesetze und -verordnungen. Allerdings schützen diese Tiere nur bedingt. Es gibt den Grundsatz, dass man keinem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf. Allerdings wird in den Kreis dessen, was als „vernünftiger Grund“ anerkannt wird, sehr viel eingeschlossen. So werden in der Praxis der Rechtsprechung beispielsweise wirtschaftliche Gründe als „vernünftig“ betrachtet. Demnach sind auch diverse Praktiken legal, die extreme Qualen für Tiere bedeuten, etwa Verstümmelungen – man denke nur an die Ferkelkastration oder Schnabelkürzungen. Die bloße Existenz von Tierschutzgesetzen ist jedoch nur eine Seite. Deren Durchsetzung ist eine andere. Faktisch entspricht die Tierindustrie in weiten Teilen einer Form straffrei institutionalisierter Agrarkriminalität. Selbst extremste Fälle von Tierquälerei, die in der Regel zufällig durch Tierschutzorganisationen aufgedeckt werden, werden durch Justiz und Politik nicht selten ignoriert. Schließlich sind auch Veterinärämter in den allermeisten Fällen zu reinen Erfüllungsgehilfen für tierhaltende Betriebe verkommen.

In Ihrem Buch „Was sich am Fleisch entscheidet – Über die politische Bedeutung von Tieren“ skizzieren Sie den Lebensweg unter anderem von Ferkeln. Aus der Sicht der Tiere produzieren wir einen pausenlosen Exodus?
Ferkel oder Schweine im Allgemeinen durchleben in den wenigen Lebensmonaten, die man sie leben lässt, schreckliche Grausamkeit. Ich selbst habe in Schweinezuchtbetrieben gearbeitet und musste täglich mitansehen, wie schwache Ferkel totgeschlagen werden, wie den männlichen Tieren die Hoden herausgerissen werden, wie Sauen monatelang in körperengen Metallkäfigen fixiert werden, wie verletzte und kranke Tiere zum Sterben sich selbst überlassen werden, wie sadistisch viele Arbeiter mit den wehrlosen Tieren umgehen und vieles mehr. Was sich im Innern von Tierfabriken abspielt, ist für Außenstehende kaum vorstellbar. Für die Tiere ist es die Hölle. Dabei macht es auch kaum einen Unterschied, ob die Tiere in einer kleinen oder großen, alten oder modernen, konventionell oder biologisch geführten Anlage gehalten werden.

Reporter Jenke von Wilmsdorff hat für RTL über mehrere Wochen täglich massiv Fleisch konsumiert. Bereits nach kurzer Zeit bekam er Gelenkschmerzen.
Dahinter steht die Frage, welches eigentlich die „artgerechte“ Ernährung des Menschen ist. Dabei hilft in einem ersten Schritt bereits die gesunde Intuition. Schließlich reagieren Menschen anders, wenn sie dem Kadaver eines toten Tieres begegnen, als wenn sie einen Baum voller Früchte erblicken. Während Tierkadaver primär Ekel hervorrufen, wirken reife Früchte automatisch anziehend. Dass Menschen dennoch mit Genuss die toten Körper von Tieren essen, erklärt sich dadurch, dass die Zubereitung eines abstrakten Stück Fleischs die Herkunft desselben, also das Tier, von dem es stammt, als solches unkenntlich macht. Neben der Intuition kann mithilfe der Wissenschaften aufgeklärt werden, welches die „artgerechte“ Ernährung des Menschen ist. Dabei hilft insbesondere ein Blick in die Entwicklungsgeschichte des Menschen und seiner Vorfahren.

Es gilt, herauszufinden, wie die Ernährung beschaffen war, an die sich der Mensch im Laufe der Evolution angepasst hat. Dabei kann festgestellt werden, dass alle Vorgänger des Menschen primär herbivor lebten. Affen sowie die ersten bekannten Hominiden lebten und leben insbesondere in Regenwaldgebieten. Dort finden die Tiere alle benötigten pflanzlichen Nahrungsmittel vor. Der Konsum tierlicher Nahrungsmittel in Form etwa von Insekten, Würmern oder anderen Wirbellosen bildet die Ausnahme. Heute gibt es im Ernährungsstil von Menschen jedoch eine Fehlanpassung an die eigene biologische Ausstattung, insbesondere durch Praktiken wie beispielsweise den starken Konsum von verarbeitetem Fleisch, Zucker, gesättigten Fetten etc. Dass eine „Carnivore Diet“ zu negativen gesundheitlichen Folgen führt, wie in Ihrer Frage angesprochen, ist da wenig erstaunlich.

Inzwischen sind zahlreiche Produkte wie vegetarische Salami oder vegane Bratwürste im hiesigen Handel erhältlich. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die das seltsam finden. Wobei eine Wurst oder Bratwurst ja auch nicht viel mit dem klassischen Steak zu tun hat, oder?
Wir wurden als Kinder mit dem Geschmack von Fleisch, Käse, Joghurt etc. sozialisiert, bevor wir reflektieren konnten, welche Leiden, Umweltschäden und gesundheitlichen Implikationen hinter diesen Produkten stecken. Pflanzliche „Ersatzprodukte“ sind angesichts dessen eine gute Sache, um den Geschmack und den Lebensstil, an den wir gewöhnt sind, beizubehalten. Gleichzeitig kann etwas so Profanes wie eine vegane Bratwurst einem Tier ersparen, dass ihm ein Messer in die Kehle gestoßen wird. Wenn man dies ausblendet, verstehe ich aber auch die Skepsis gegenüber den neuen Produkten – schließlich stehen sie für einen Bruch mit der Tradition. Sie stehen für ein neues Paradigma, für einen modernen, nachhaltigen Lebensstil. Dieser ist eine symbolische Bedrohung für das Alte, Tradierte, in dem viele von uns sich wohl fühlen.

Fehlt in unserer Kultur auch die Aufklärung über die tierische Verarbeitung? Für vegetarische Produkte mit Eiern werden schließlich auch Legehennen gezüchtet, die kurze Zeit später als Suppenhühner vermarktet werden.
Wissen darüber, in welchen Produkten tierische Bestandteile enthalten sind, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, um bewusste Kaufentscheidungen treffen zu können. Gerade Eier, vornehmlich aus Käfighaltung, werden in Nudeln, Keksen, Pudding, Wurst und vielem mehr „versteckt“. Wer konsequent vermeiden möchte, dass Tiere für Nahrungsmittelzwecke genutzt werden, der muss dies beachten. Immer mehr Hersteller, vor allem im Bio-Bereich, verzichten jedoch auf entsprechende Beimischungen, und es ist nicht schwer, entsprechende Kaufroutinen zu entwickeln, um auf rein pflanzliche Produkte zurückgreifen zu können.

In Ihrem Buch schildern Sie auch die Schlachtung von Tieren. Muss das „human“ sein, da die Folge ohnehin der Tod ist?
Der Begriff des „humanen Schlachtens“ ist erstmal ein Widerspruch in sich. Dennoch wird er immer wieder benutzt. Er soll suggerieren, dass Tiere eine schlagartige Betäubung erfahren und dann unter ausgeschalteter Empfindungsfähigkeit sterben. In der Theorie wäre so etwas sogar möglich. Von der Praxis könnte diese Idee jedoch nicht weiter entfernt sein. Das, was in Deutschland jährlich circa 750.000.000 Tiere in Schlachthöfen erleben, könnte „inhumaner“ kaum sein. Dies kann man nicht zuletzt an den fast zwanzig Schlachtbetrieben in Deutschland festmachen, in denen in den letzten Jahren durch versteckte Kameras von Tierschützern der Arbeitsalltag gefilmt wurde. Da werden Tiere geschächtet, geschlagen, ertränkt, erstickt, mit Elektroschockern gefoltert, mit Maschinen zerquetscht etc. Es sind dabei paradoxerweise gerade die Schlachtereien, die den vielbesagten „Metzger des Vertrauens“ beliefern, in denen sich die unbeschreiblichsten Szenen abspielen.

Hätten wir einen anderen Bezug zum Fleisch, wenn jede Person seinen Fleischvorrat selbst erlegen müsste?
Ja, definitiv. Ich frage mich bloß, welche gesellschaftlichen Nebenwirkungen es hätte, wenn alle Menschen in die Lage versetzt würden, Wirbeltiere zu töten. Das Töten bleibt ja ein an sich grausamer Prozess. Ein Kind etwa käme ja nicht auf die Idee, ein Kaninchen, das vor ihm über die Wiese hoppelt, umzubringen. Man müsste es ihm beibringen. Wir müssten das Töten erlernen, das Ausschalten von Empathie. Menschen haben eine Art „Gewaltimmunsystem“, das sie mit einer starken Hemmung ausstattet, anderen Lebewesen Gewalt zuzufügen oder sie von Angesicht zu Angesicht zu töten. Wird diese Hemmung durchbrochen, führt dies zu zahlreichen Psychopathologien, wie sie sich bei Personen beobachten lassen, die systematische Tötungsarbeit verrichten. Typische Erkrankungen sind etwa Persönlichkeits- oder Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Wahnbildungen, Schlafprobleme, Hypersensitivität gegenüber bestimmten Reizen, manisch-depressive Erkrankungen und dergleichen mehr.

Seit rund zwei Jahren konsumiere ich kein Fleisch mehr, da vegetarische Freunde mit ihren Gerichten meine Kreationen in den Schatten stellten.
Ich weiß nicht, ob es mir zusteht, zu beurteilen, was der richtige Weg ist, um zu richtigen Entscheidungen zu kommen. Fakt ist, dass die Negation der Unterstützung des Systems Tierindustrie, egal aus welchen Motiven heraus sie passiert, etwas ist, von dem alle profitieren: Die Tiere, unsere Gesundheit, das Klima, der Regenwald, das Grundwasser, und, nicht zu vergessen, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die darunter leiden, ihren Lebensunterhalt in tierindustriellen Anlagen verdienen zu müssen.

Wir sehnen uns nach einer Freiheit, gleichzeitig sind diese Freiheiten oft fatal: Kunden kaufen das billigste Fleisch, wollen für Bio keinen Aufpreis zahlen. Müsste man dies nicht einschränken?
Man müsste vieles Einschränken, was nicht im Sinne der Allgemeinheit ist, sondern ausschließlich Partikularinteressen dient. Billige Tierprodukte sind eigentlich gar nicht billig. Die Kosten für sie werden bloß „ausgelagert“. Würden die verursachten Kosten ökonomisch eingepreist, müssten beispielsweise konventionell hergestellte Tierprodukte zurückhaltenden Schätzungen zufolge einen Aufschlag von knapp 200 Prozent auf die Erzeugerpreise erhalten. Mit einer globalen veganen Ernährung könnten umgekehrt circa 20 Billionen Dollar zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels eingespart werden. Da derartige Kalkulationen jedoch nicht auf aktuelle Preise zurückgerechnet werden, gibt es eine massive Marktverzerrung und eine Abwälzung der monetären als auch nicht-monetären Kosten auf die Allgemeinheit.

Vor ein paar Jahren stand ich im Supermarkt und habe ein Gespräch zwischen zwei Kunden belauscht. Während der eine an der Fleischtheke teures Rind kaufte, meinte der andere, er kaufe das billige abgepackte Fleisch für seine Familie. Die Begründung war kurios: Seine Familie schmecke den Unterschied nicht.
Sofern Fleisch eindimensional nach seinem Geschmack bewertet wird, ist eine solche Entscheidung absolut rational. Aber es gibt nicht nur diese eine Dimension. Am Fleisch entscheidet sich weitaus mehr. Aber es ist ja gerade der psychologische Trick, die vielen ökologischen, tierethischen, politischen, epidemiologischen Dimensionen, die Fleisch besitzt, auszublenden, um es ohne innere Konflikte konsumieren zu können.

Immer mehr vegetarische Produkte erobern die Supermärkte – eigentlich ein gutes Zeichen?
Ja, das ist in meinen Augen ein gutes Zeichen. Bei allen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Vorwürfen, die diesen Produkten gemacht werden, stellen sie doch die Lösung für viele Probleme dar. Natürlich sind Fleischersatzprodukte keine topgesunden Nahrungsmittel, aber fairerweise müssen sie mit dem „Original“ verglichen werden, und da schneiden sie im Durchschnitt sogar besser ab, wie in zahlreichen Studien nachgewiesen wurde. Ich finde es auf jeden Fall begrüßenswert, dass es ein so großes Angebot leckerer pflanzlicher Fleischalternativen, veganer Käsesorten, veganer Joghurts oder Haferdrinks gibt.

Woher kommt eigentlich der Irrglaube, dass Ersatzprodukte gesünder sein müssen?
Ersatzprodukte, das sagt ja der Begriff bereits, werden als Alternativen wahrgenommen, als Abweichungen vom Original, ergo als "zweitrangig". Um diese "Schwäche" wett zu machen, wird erwartet, dass sie perfekt nachhaltig und gesund sein müssen. Sobald also Ersatzprodukte gewisse Mengen Fett, Salz, Soja, Hefeextrakt oder auch Mineralölkohlenwasserstoffe in der Verpackung enthalten, gibt es Angriffspunkte für Kritik. Dass dabei bei Ersatzprodukten mit völlig anderen Maßstäben gemessen wird, als bei den tierischen Produkten, wird nicht kommuniziert. Die Skepsis, die aus einer traditionellen Ernährungskultur den neuen Produkten entgegenschlägt, führt zu einem ständigen Vergleichskampf. Mit Blick auf die Fachliteratur jedoch scheint klar zu sein, wer als Sieger aus diesem Kampf um Punkte für Gesundheit und Nachhaltigkeit hervorgeht: Es sind die Ersatzprodukte.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

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