Die Kritiker

«Ostfriesengrab» - Der Dieter ist ein Dreckskerl, den die Frauen warum lieben?

von

Eine neue Hauptdarstellerin, die ein schweres Erbe antreten muss in einem Kriminalstück, das einfach schlecht ist.

Cast & Crew

  • Darsteller: Julia Jentsch (Ann Kathrin Klaasen), Christian Erdmann (Frank Weller), Barnaby Metschurat (Rupert), Kai Maertens (Ubbo Heide, Kripochef), Ernst Stötzner (Anns Vater), Anton Noori (Dieter Meuling), Udo Samel (Freimut Diebold), Catrin Striebeck (Cora Johannsen)
  • Drehbuch: Nils-Morten Osburg
  • Musik: Florian Tessloff
  • Produzenten: Martin Lehwald, Michal Pokorny, Marcos Kantis
  • Regie: Stefan Lukacs
Die Vorgängerfilme waren höchst erfolgreich. «Ostfriesenkiller» erreichte am 1. April 2017 fast 7,8 Millionen Zuschauer, «Ostfriesenblut» konnte zwischen den Jahren am 29. Dezember 2018 - trotz großer Konkurrenz auf allen Kanälen - 6,48 Millionen Zuschauer an die Bildschirme fesseln und „Ostfriesensünde“, ausgestrahlt am 2. Februar 2019, steigerte sich sogar wieder – auf 7,24 Millionen Die Krimiserie um die Ermittler Ann Kathrin Klaasen, Ubbo Heide, Rupert und Weller haben nicht nur im ZDF eine treue Fangemeinde. Die Romanreihe von Klaus-Peter Wolf auf der die Filme basieren, umfasst inzwischen 13 Bände. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass Band 14 kurz nach der Ausstrahlung der ZDF-Verfilmung von «Ostfriesengrab» im Buchhandel erhältlich sein wird.

Nun hat die Verfilmung des 2009 erschienenen Romans «Ostfriesengrab» von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Christiane Paul, Darstellerin der eigenwilligen Kommissarin Ann Kathrin Klaasen, stieg nach ihrem letzten Filmfall aus der Serie aus. Für sie ist Julia Jentsch in die Serie eingestiegen. Der Ausstieg einer Hauptdarstellerin ist für jede Serie eine Katastrophe. Und wenn sich dann auch noch die gesamte Handlung rund um diese eine Figur aufzieht, sie quasi den Stern darstellt, um den die anderen Figuren kreisen, dann spricht man gemeinhin von einem echten Problem. Dem die Autoren hier in der Form gegenübertreten, dass sie sofort zu Beginn die ganz große Emotions-Flak aus dem Autorenkeller holen und Ann Kathrin mit dem heutzutage unvermeidbaren Ermittlertrauma konfrontieren. Im Fall der Kommissarin ist das der Tod des eigenen Vaters, der sie seit Jahren verfolgt. Der war selbst ein Polizist und ist erschossen worden. Der Fall konnte nie aufgeklärt werden; so sitzt Ann Kathrin gleich zu Beginn in ihrem privaten Arbeitszimmer, das regelrecht mit Fotos und Fahndungsunterlagen zum Tod des Vaters zutapeziert ist - und unterhält sich mit ihm. Oder besser gesagt mit seinem nur für sie sichtbaren Abbild. Julia Jentsch bekommt die Möglichkeit, sich selbst als Ann Kathrin zu etablieren, sie ist die Frau mit dem Trauma, vergesst die Vorgängerin, die Neue ist da.

Was an sich gut funktioniert und einerseits eine Verbindung zu den Vorgängerfilmen schlägt, andererseits aber auch Erstzuschauer in die Welt der Ann Kathrin Klaasen problemlos eintauchen lässt. Leider bleibt dies so ziemlich der einzige gelungene Moment im Rahmen einer Geschichte, die nicht nur simpel gestrickt ist, sondern dramaturgisch sogar ein regelrechtes Ärgernis darstellt. Warum?

Kreuzigung? Langweilig!
«Ostfriesengrab» beginnt, man ahnt es, mit einem Mord. Eine Frau wird an einen Baum gekreuzigt tot aufgefunden. Der Mörder hat sich viel Mühe gegeben, ihren Tod kunstvoll und verstörend zu inszenieren. Was von der Szene, die nun folgt, nicht behauptet werden kann. Die Emotionslosigkeit, mit der die anwesenden Polizisten, neben Ann Kathrin ihr Kollege (und irgendwie auch Freund) Weller (Christian Erdmann), den Tatort begehen, erinnert eher an Besucher einer Vernissage, die von überschätzter Hausfrauenkunst gelangweilt auf die Häppchen warten, mit denen sie sich die Zeit bis zu jenem geeigneten Moment totschlagen wollen, an dem sie gesichtswahrend die Flucht antreten können.

Film ist Fiktion und niemand erwartet, dass die Begehung eines Tatorts in einem solchen Film realistisch mit all seinen tatortsichernden Maßnahmen entsprechend der Realität dargestellt wird. Film ist aber auch Emotion. Es sagt nun viel über die handelnden Figuren aus, wie sie mit dem, was sie zu sehen bekommen, umgehen, wie sie den Fall bewerten. Doch da bleibt dieser Moment in einer Art und Weise kühl, dass man fast geneigt ist, die handelnden Figuren einem EKG zu unterziehen, um festzustellen, ob da noch ein Lebensfunke in ihnen schlägt – oder ob sie bereits klinisch tot sind? Und so geht es weiter. Wenn Ann Kathrin und Weller den Vater der Getöteten vom Ableben seiner geliebten Tochter berichten, wird diesem zwar ein kurzer Moment der Ohnmacht zugestanden, dann aber folgt auch schon die Täternennung. Seine in die Kunst verliebte Tochter habe Sträflinge durch Kunst versucht in die Gesellschaft zu reintegrieren. Bei der Arbeit habe sie Dieter kennengelernt, einen Frauenschläger, der sich für einen Künstler hält und zu dem sie sich besonders hingezogen gefühlt hat.

Aha: Eine kunstvolle Leicheninszenierung? Ein Frauenschläger mit Knasthintergrund?

Der Fall ist gelöst, der Verdächtige muss der Täter sein.

Das Problem: Als Zuschauer weiß man im Moment des ersten Zusammentreffens der Ermittelnden mit besagten Dieter zwar sofort, dass dieser Dieter ein mieser Dreckskerl ist. Es steht ihm auf die Stirn tätowiert. Da gibt es in der Inszenierung keine Zurückhaltung, keine Doppelbödigkeit. Aber er wird nicht der Mörder sein. Zum einen ist die Geschichte zu diesem Zeitpunkt erst 25 Minuten alt und noch 65 Minuten Spielzeit müssen mit Handlung gefüllt werden. Man ist als Zuschauer den Ermittlern allerdings auch einen Schritt voraus – der Prolog des Filmes verrät nämlich leider, dass Dieter kaum der Mann ist, den die Polizisten suchen.

Es würde zumindest keinen Sinn ergeben.

Warum?

Der Prolog spielt auf zwei Zeitebenen, die nach und nach zusammenfinden. Auf der einen Seite ist das Opfer, das in der Dämmerung irgendwo durchs ostfriesische Nirgendwo irrt. Die Frau ist offensichtlich misshandelt worden. Auf der anderen Seite ist da ein Autofahrer, der offenbar planlos durch die Gegend fährt und dessen Fahrt der Zuschauer – der subjektiven Kamera sei Dank – aus seiner Perspektive erlebt. In der ersten Einstellung, in der er durch Ostfriesland fährt, ist es helllichter Tag. Wenn er das Opfer trifft, ist es Abend. Es ist unwahrscheinlich, dass das Opfer einen halben Tag lang umhergeirrt ist. So locker ist Ostfriesland auch nicht besiedelt. Die Frau scheint eher „frisch“ verprügelt worden zu sein. Da es – tatsächlich! - Indizien dafür gibt, dass Dieter die Tote verprügelt hat, ihre Wunden im Prolog aber frisch wirkten – ist er nicht der Mann im Auto.

Wir verhaften ihn dennoch!
Natürlich wird Dieter erst einmal verhaftet. Es gibt zu diesem Zeitpunkt ja auch noch keine andere Figur, die auch nur in die Nähe des Geschehens geführt worden wäre. Es gibt eine Leiche, es gibt Dieter. Und nun?

Die Handlung nimmt, taraaaa, eine Wendung hin zu Ann Kathrins Trauma. Dieter ist nämlich nicht nur ein Frauenschläger. Er ist auch sonst ein ganz übler Bursche. Einer, der zufällig auch weiß, lässt er Ann Kathrin über seine Anwältin ausrichten, wer ihren Vater erschossen hat. Und nicht nur das: Ihr Vater, behauptet Dieter, sei kein anständiger Friesenjung gewesen, wie alle glauben. Nein, tatsächlich ist er nur ein Opfer seiner eigenen Niedertracht geworden. Der gute Polizist – war nur eine Fassade.

Wie geht Ann Kathrin nun vor?

A - Kühl? Wird sie diese Information sacken lassen? Wird sie das Gespräch mit ihm suchen? Was hat Dieter ihr zu bieten außer einer unbewiesenen Behauptung?

Oder B – erfüllt sie das Klischee der einsamen, gruppenapathischen Einzelgängerin, die den Verdächtigen eines Mordfalles entführt, ihm vermeintlich wahrheitsfördernd eine Waffe an den Kopf hält – und durch ihr Verhalten dafür Sorge trägt, dass der Verdächtige Fersengeld geben kann und aus ihrer Obhut entkommt?

Natürlich ist es A – nicht. Hat ein Verhalten, wie Ann Kathrin es an den Tag legt, eigentlich schon ein einziges Mal in einem deutschen Kriminalfilm zum gewünschten Ergebnis geführt?

Abgesehen von der Tatsache, dass in diesem Moment klar wird, dass Ann Kathrin noch nie einen deutschen Kriminalfilm gesehen haben kann, sonst wüsste sie, wohin ihr Verhalten führen wird, richtet sich der Fokus nun ganz auf Dieter, der mit Hilfe seiner Anwältin untertauchen kann. Einer Anwältin, die ihren Mandanten nicht nur vor einer – objektiv betrachtet – außer Kontrolle geratenen, offenbar nicht zurechnungsfähigen Polizisten zu schützen gedenkt. Nein. Natürlich sucht sie auch eine körperliche Nähe zum bösen Dieter. Frauen mögen ja böse Jungs. Auch wenn diese nach einem Schäferstündchen mit Fäusten auf die ihnen entgegengebrachte Zuneigung antworten.

Man darf ausschalten
Dies ist der Moment, in dem eine gewisse Fassungslosigkeit den Rest des Filmes überschattet. Es ist 2020. Und attraktive, intelligente Frauen fühlen sich immer noch zu dieser Art von harten Jungs hingezogen?

Was? Zur? Hölle?

Es gibt an Dieter nichts, aber auch wirklich nichts (außer einen Körper, den er nicht verstecken muss), was in irgend einer Art und Weise anziehend wirken würde. Und selbst, wenn die Anwältin einsam wäre, um diesen Gedanken einmal aufzugreifen: Sie weiß, dass er ein vorbestrafter Frauenschläger ist. Sie muss davon ausgehen, dass er im Gefängnis nicht geläutert wurde. Himmelherrgott, selbst wenn sie an einem Punkt im Leben angekommen sein sollte, an dem die einzige Anforderung an einen Mann die wäre, dass er noch selbstständig atmen kann: Die Geschichte der einsamen Anwältin und des harten Jungen, und mag sie nur ein Nebenstrang der Handlung darstellen, ist an dieser Stelle so dämlich, so voller Klischees, dass man den Film an dieser Stelle abbrechen möchte. Das kann doch nicht wahr sein! Gäbe es irgendeinen Hinweis auf eine frühere Beziehung. Oder auf eine perfekte Täuschung, die vom bösen Jungen ausgegangen wäre. Irgend etwas.

Aber nichts.

Tja, und dann geschieht ein zweiter Mord. Es geschieht ein dritter Mord. Beide sind wieder sehr aufwendig inszeniert. Und dann, nach etwas über 60 Minuten Spielzeit, wird die gesamte Dieter-Handlung zu den Akten gelegt, eine Nebenfigur, die kurz eingeführt wurde – wird dem Publikum als Mörder präsentiert und aus dem Whodunit, dem es leider an Verdächtigen mangelt, wird ein Mörderspiel, in dem der nun bekannte Killer offenbar nicht nur eine weitere Tat plant, sondern damit etwas ganz Bestimmtes aussagen will. Was nun auch nicht wirklich überrascht, sonst hätte er seine Morde kaum so kunstvoll arrangiert.

Die wollen nur kuscheln
Hat eigentlich niemand bemerkt, was für ein Frauenbild dieser Film transportiert? Das erste Opfer, das bewusst die Nähe zu einem harten Jungen sucht: eine solche Frau, die der Kunst zugewandt ist, kann sich ja keinen normalen Jung von der Küste suchen... Da ist Ann Kathrin, die Frau, die rasend vor Emotionalität alle Professionalität fahren lässt - wissen wir doch, die Frau ist nun einmal grundsätzlich ein emotionales Wesen, das zu professioneller Ermittlerarbeit gar nicht fähig ist... Und die Anwältin, eine intelligente Frau, die doch nur den harten Mann sucht, an den sie sich kuscheln kann: Allein für diese Figurenzeichnungen möchte man dem ZDF den Film links und recht um die Ohren hauen. Wenn dann quasi die gesamte erste Stunde Spielzeit den Fokus auf eine Geschichte richtet, die für den tatsächlichen Fall überhaupt keine Relevanz hat, dann stellt dies keinen gewollten Bruch mit erwarteten Sehgewohnheiten dar, dem durchaus ein Reiz inne liegen könnte. Nein, vielmehr wird Ann Kathrins Emotions-Tripp beendet, da man sich noch schnell der Mordgeschichte widmen muss.

Irgendwann beginnt dann der Abspann. Gott sei Dank, möchte man fast ausrufen.

«Ostfriesengrab» wird am Samstag, 15. Februar, um 20.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt.

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