Hingeschaut

Connect the System, Chrystal!: «Böhmermanns perfekte Weihnachten»

von

Heiligabend 2018: «Böhmermanns perfekte Weihnachten» ist ein weiteres, aber etwas anders gelagertes fiktionales Special der bildundtonfabrik.

Ein Einblick in den ungeschönten Weihnachtsalltag einer deutschen Durchschnittsfamilie. Loriots «Weihnachten bei Hoppenstedts» versuchte sich daran, aus dieser Idee etwas weniger als eine halbe Stunde komödiantischen Materials zu schöpfen. Und auch, wenn die Schnittfassung, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Festtagstradition geworden ist, erstmals im Jahr 1997 lief, stammt der ausgedehnte Sketch bereits aus dem Jahr 1978. Jünger ist da schon «Familie Heinz Becker – Alle Jahre wieder»: Der Kult mit Gerd Dudenhöffer wurde erstmals 1994 über den Äther geschickt. Das macht die Seitenhiebe auf Weihnachtsbräuche und Familieneigenheiten im direkten Vergleich geradezu topaktuell. Gewiss: Gewitzt gemacht sind beide deutsche Comedyklassiker, und in einigen Familien mögen sie auch außerhalb des Nostalgiefaktors Relevanz haben.

Dennoch wird es Zeit für eine Aktualisierung. Eine halbe Stunde deutschen Humors über die kleinen Freuden und großen Ärgernisse eines deutschen Durchschnittsweihnachtsfestes im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Naja. Nicht ganz. Da die Vorstellung der Durchschnittsfamilie nach und nach veraltet, bietet sich viel mehr ein exemplarischer Querschnitt an. Und genau den bietet nun die bildundtonfabrik mit ihrer neusten Fiction-Produktion, in der «Neo Magazin Royale»-Moderator Jan Böhmermann als Aushängeschild fungiert.

«Böhmermanns perfekte Weihnachten» ist jedoch nicht "einfach noch ein Fiction-Special der «Neo Magazin Royale»-Macher". Mit diesem Projekt schlägt die Crew neue Wege ein: «Böhmermanns perfekte Weihnachten» steht tatsächlich eher in der Tradition der klassischen deutschen Familienspecials, statt den wilden und absurden btf-Produktionen «Dr. Böhmermanns Struwwelpeter» und «Die letzte Stunde vor den Ferien» zu folgen. Die btf fügt dem Ganzen aber ihren sardonischen Blick auf unsere Gesellschaft hinzu, ein feines Auge für Produktionswerte sowie die besagte Modernisierung dessen, wie heute ein typisches Weihnachten aussieht.

Statt der starren Vater-Mutter-zwei-Kinder-Kombination mit optionalen Großeltern treffen wir in «Böhmermanns perfekte Weihnachten» mehrere Menschen, die in einem Mehrfamilienhaus leben – passend zur Thematik des Specials ist es eines mit der Hausnummer 24. Ein einsamer Paketbote schleppt sich durch das Treppenhaus, um für wenig Geld und noch weniger Trinkgeld die letzten Geschenke vor dem Fest auszuliefern. Vier charakterlich sehr unterschiedliche Singles tun sich zusammen, um ein unweihnachtliches Fest zu feiern. Aber zu unweihnachtlich soll es auch nicht sein. Dumm nur, dass einer von ihnen hofft, noch im Laufe des Abends einen Stich zu landen. Das kann nur zu Konflikten führen, vor allem nach ein paar Kupferbechern Moscow Mule.

Ein junges Paar ohne Kinder schlägt sich am ersten gemeinsamen Heiligabend derweil mit der neuen Errungenschaft in seiner Techniksammlung herum: Chrystal, ein mit Sprachsteuerung zu bedienendes Soundsystem, das allerdings Probleme hat, den Akzent ihres Besitzers zu verstehen. An anderer Stelle lernen sich zwei Singles kennen. Im Chat. Er, überzeugter Weihnachtsgegner und einsamer Sarkast. Sie, verrückt nach Weihnachten, aber ganz alleine. Und eine klassische Familie mit zwei Kindern gibt es dann doch. So halbwegs. Er hat einen Hipsterbart und statt des Weihnachtsbratens oder der Kombination "Bockwurst mit Kartoffelsalat, damit zum Fest keiner kochen muss" gibt es selbstgemachte Bockwurst zu essen. Ganz ohne Nitritpökelsalz. Dafür sitzt die einsame Rentnerin aus dem Erdgeschoss mit am festlich gedeckten Tisch, weil die Eltern was Gutes tun wollen. Doof nur, dass sich die politische Einstellung der Rentnerin und die der Teenie-Tochter/YouTuberin nicht vereinbaren lassen. Stress, den sich die türkische Familie unter diesem Dach in aller Seelenruhe spart …

Die Beobachtungen, die «Böhmermanns perfekte Weihnachten» im einzelnen Detail macht, sind selten neu. Internet-Flirts, bei denen man eine ins Extreme verzerrte Darstellung seines wahren Ichs zum Besten gibt, zwischendurch vollkommen flunkert und gelegentlich eben sehr wohl die Wahrheit mitteilt, sind längst in der Welt der Romantikkomödien angekommen, und dass sich ein Mann an Heiligabend mehr mit seinem neuen Technikspielzeug beschäftigt als mit seiner Liebsten, ist ein ewiger Weihnachtsklassiker – in Popkultur und Realität (da auch mit vertauschten Rollen). Was aber neu ist, ist diese Zusammenstellung: «Böhmermanns perfekte Weihnachten» wird dem Anspruch gerecht, modernes Weihnachten in Deutschland akkurater zu spiegeln, als es das deutsche Fernsehen bislang vermochte. «Böhmermanns perfekte Weihnachten» kommt ohne den Staub aus, den solche Sendungen aus der Zeit vor der Digitalisierungswelle angesetzt haben. Dieses btf-Special verzichtet obendrein auf eine dicke Schicht süßen Weihnachtskitschs – schwingt aber auch nicht in die entgegengesetzte Richtung.

Das Autorenteam hinter «Böhmermanns perfekte Weihnachten» verteilt zwar mit der von solchen «Neo Magazin Royale»-Sonderausgaben gewohnten Mixtur aus direkter Trockenheit und spritziger Karikatur Seitenhiebe. Hier etwa auf ausufernde Hipsterbärte, die ihrem Träger nicht stehen, doppelzüngige YouTuber und die Ausbeutung von Paketlieferanten. Dennoch ist «Böhmermanns perfekte Weihnachten» kein galliges Anti-Weihnachtsspecial, sondern kommt zu einem nuancierten Fazit: Weihnachten kann so ruhig und schön sein, wenn man nicht so verkrampft nach Perfektion streben würde. Denn die definiert jeder anders. Der vielleicht ausdrucksstärkste Moment in «Böhmermanns perfekte Weihnachten» ist daher der freundlich-mitleidende Blick, den der gefrustete Paketbote mit der türkischen Familie austauscht, die bemüht versucht, die vier besoffenen Deutschen zu dulden, die lallend, jubilierend und Geschenke verteilend vor ihrer Tür steht.

Die Regisseure Nicolas Berse und Daniel Rakete Siegel, der unter anderem sechs «Im Knast»-Episoden inszeniert hat, hüllen dieses galant gefilmte Komödienspecial konsequent in ein dunkles, variantenreiches Licht. Durch feine, bewegende Unterschiede verschiebt sich die Bildästhetik so in graue Trostlosigkeit, kalte Modernität, forcierte Dramatik oder heimelige Schattigkeit mit stimmungsvollen Lichtakzenten. Die in diesem ästhetischen Stil festgehaltenen, oft sehr beiläufig vermittelten Pointen des Ensembles (zu dem unter anderem Jan Böhmermann, Jasmin Schwiers, Valerie Niehaus, Badasar Calbiyik, Daniel Zillmann, Katjana Gerz, Sophie Passmann, Florentin Will, Giulia Becker, Ralf Kabelka und Max Bierhals gehören), werden mehrmals durch den humoresk-assoziativen Schnitt ergänzt – sowie durch die von der btf gewohnten Liebe zum Detail.

Fazit: «Böhmermanns perfekte Weihnachten» ist, wenn das Paket von HDL geliefert wird, der Befehl "Connect the System, Chrystal" durchs Mehrfamilienhaus hallt und "Es ist Weihnachten, hier kotzt niemand" zu den vernünftigeren Hoffnungen gehört. Einschalten!

«Böhmermanns perfekte Weihnachten» ist ab dem 14. Dezember 2018 um 20.15 Uhr in der ZDF-Mediathek und ab 23.15 Uhr im ZDF zu sehen, sowie zusätzlich am Donnerstag, 20. Dezember, um Mitternacht in ZDFneo.

Kurz-URL: qmde.de/105927
Finde ich...
super
schade
95 %
5 %
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger Artikel«Superstore» nur noch gerade so mit drei Millionen Zuschauernnächster ArtikelDas war 2018 – Teil 1
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief




E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung