Popcorn & Rollenwechsel

Alles ist Politik

von   |  1 Kommentar

Wenn Sticker aus dem «Polizeiruf 110» zensiert werden und Filmfans über zu politische Wintermärchen klagen, darf eines nicht vergessen werden: Apolitische, narrative Filme gibt es nicht.

Nicht nur das Handeln einer Figur und ihre Wortwahl skizziert ihre Persönlichkeit. Auch die Lautstärke ihre Stimme. Der Rhythmus ihrer Sprache. Ihre Mimik und Gestik. Und ihr Drumherum. Ihr Kostüm etwa. Man muss keinen Ausschnitt aus der «Pirates of the Caribbean»-Saga sehen, in dem ein Storywendepunkt geschieht, um zu verstehen, wie Käpt'n Jack Sparrow tickt. Schon ein dialogloser Clip, in dem dieser auffällig gekleidete Pirat herum torkelt, sorgt für einen Eindruck, um wen es sich handelt. Solche Figureninformationen sind wichtig, sie füllen das Bild, die Erzählwelt und die Persönlichkeiten, um die es geht, mit Leben. Wenn also in einem Fernsehkrimi mal nicht 08/15-Einrichtung zu sehen ist, sondern Ermittler ihren Arbeitsplatz mit Anti-Nazi- und Anti-AfD-Stickern aufhübschen, sollte dies zelebriert werden. Ein TV-Krimi, der nicht den simpelsten Weg geht. Einer, dessen Figurenzeichnung mehr beinhaltet als: "Wie oft flucht die Hauptfigur? Wie oft unterbricht sie die Ermittlungen für eine Portion Currywurst?" Ein TV-Krimi, der zu den guten gehört. Oder wenigstens zu jenen, die sich Mühe geben.

Aber es kann der frömmste Fernsehkrimi nicht in Frieden Charaktere bilden, wenn's den "lieben" Rechtspopulisten nicht gefällt. Nachdem online der «Polizeiruf 110 – Für Janina» von zahlreichen Twitter-Usern gefeiert wurde, weil ein paar findige von ihnen besagte Sticker in ihm entdeckten, tobte die AfD. Schon lustig. Gerade die, die sich "Das wird man ja wohl doch sagen dürfen!" in ihre Hirnwindungen geritzt haben, und mit der Ausrede der Meinungsfreiheit unentwegt gegen Ausländer wettern … Gerade gegen die darf man nichts sagen. Nicht einmal gegen sie stickern darf man!

Und die ARD? Die ließ sich ins Bockshorn jagen und entfernte aufgrund des Rechtsdrucks rückwirkend mittels digitaler Bildbearbeitungsmagie die Hinweise darauf, dass rechtschaffene, weltoffene Figuren im «Polizeiruf 110» womöglich Probleme mit der AfD haben. Und das von meinen Gebührengeldern! Mit dem Budget dieser Bildbearbeitungsaktion hätte ich mir sicher eine deftige Mahlzeit leisten können! Unerhört! Und dann kommen noch die Implikationen für die Zukunft der ARD-Krimireihen hinzu, die dieser Präzedenzfall setzt. Immerhin hat die ARD durch diesen Akt beschlossen, dass Figuren in ihren Krimis politisch neutral sein müssen. Somit fällt ab sofort jede Menge inhaltliches Konfliktpotential flach.

Wenn die Ermittler keine Rassisten-Feinde sein dürfen, dann dürfen doch sicher fortan die Schurken auch keine Rassisten mehr sein. Das wäre ja sonst ein seltsames erzählerisches Ungleichgewicht. Denn sind wir mal ehrlich: Wenn wir fortan nicht mehr jene repräsentieren, die gegen Intoleranz und Hass sind, was für ein kaputtes Weltbild schicken wir über den Äther, wenn nur noch die Intoleranten, die Hassenden in TV-Krimis vorkommen? Kurzum: Einfach weg mit der Debatte. Keine Migrations-«Tatort»-Ausgaben mehr, keine rassistisch motivierten Morde mehr. Und wenn das Thema Rassismus tabu ist, dann sicher auch Sexismus, schließlich ist das genauso politisch.

Keine Ermittlerinnen mehr, die über ungleiche Chancenverteilung klagen. Keine notgeilen Täter mehr, die Frauen etwas antun, weil sie einen eigenen Willen haben. Und grüne Themen sind natürlich genauso politisch. Keine Krimis über Öko-Aktivisten mehr oder über böse Bauern, die Massentierhaltung betreiben. Keine "Atomkraft? Nein danke"-Sticker im «Polizeiruf 110» mehr. Aber bitte auch keinen «Tatort»-Ermittler, der stolz auf seinen SUV ist, mit dem er zur Arbeit kommt und so ein wichtiges grünes Thema ignoriert. Und da es so schwer ist, eine Grenze zu ziehen, ab wann es zu politisch wird, zeigen wir besser auch niemanden mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen. Oder mit dem Elektro-Auto. Oder zu Fuß! Das sind ja alles Botschaften gegen fossile Brennstoffe. Und wehe, die Currywurst ist ein Bio-Produkt, was soll denn die grünversiffte Propaganda in meinem TV-Krimi?!

Aber den Verantwortlichen wird sicher weiter was einfallen. Es wird Wege geben, die öffentlich-rechtlichen Krimis apolitisch zu halten. Ich freue mich jetzt schon auf «Tatort: Die Kaffeesahne ist alle» und «Polizeiruf 110: Wieso ist die Kaffeesahne schon abgelaufen?»! Das kann man dann auch mit allen «Tatort»- beziehungsweise «Polizeiruf 110»-Teams durchspielen, und schon sind Monate an Programmslots gefüllt. Obwohl, da öffnen wir nur Tür und Tor für eine Diskussion über vegane Ernährung. Dann halt «Tatort: Wer hat die letzte Tasse Kaffee getrunken?», selbst wenn wir da hoffen müssen, dass unter den Fernsehenden keine Seele auf die Idee kommt, über fairen Handel zu debattieren. Und Wiederholungen alter Schimanski-«Tatorte» sollte die ARD besser auch kippen, schließlich ist der knurrige Trenchcoat-Träger alles andere als ein angepasster Beamter. Nicht, dass der noch als Propaganda für Individualität und den in den Schnäuzer gebrabbelten Kampf gegen das Establishment durchgeht …

Kurzum: Ein Krimi ohne politische Komponente ist nahezu unmöglich. Und nicht nur Krimis. Filme sind immer politisch. Mal bewusst, mal unterbewusst. Mal explizit, mal subtil. Mal geht es um zeitlose, allgemeingültige Themen, mal um spezifische, aktuelle Themen. Der Disney-Zeichentrickfilm «Drei Caballeros», der zeigt, wie Donald Duck seinen Geburtstag feiert, ist nur ein kunterbuntes, musikalisches, surreales Spektakel? Nein, der Film ist das Produkt einer Initative der Disney-Trickstudios, um die Beziehungen zwischen den USA und Südamerika zu flicken. In den «Fast & Furious»-Filmen, so gehaltlos sie sein mögen, arbeiten Menschen verschiedener (sub-)kultureller Hintergründe zusammen – vereint durch ihre Liebe zu Autos. Es sind Filme mit einem Hauch Materialismus und einem großen Schuss "Familie sind die Menschen, mit denen man nach Brasilien reist und einen Tresor klaut!" Oder so ähnlich …

Filme vertreten immer Werte, stets haben sie eine aufdringliche oder unaufdringliche Moral. Der Vorwurf "Warum werden Filme plötzlich so politisch" ist daher Unfug. Sie waren schon immer politisch, sobald ein Film irgendeine Aussage hat, ist es eine Form von Politik. Gewiss, wenn ein Film wie «Der Nussknacker und die vier Reiche» offensichtlichere Formen in seinen politischen Bezügen annimmt, dann schreibe auch ich, dass er gegen Schluss politisch wird. Damit ist eher gemeint, dass er konkretere Bezüge auf die Weltpolitik annimmt, statt schlicht über den Wert der Familie und der Trauerverarbeitung zu referieren. "Der Film wird politisch" ist quasi die sprachökonomische Form von: "Der Film wird direkter und unverblümter in seiner Aussage und trifft konkretere, weltpolitische Aussagen statt allgemeingültige."

Und, ja, es muss nicht jeder Märchenfilm mit plötzlichen weltpolitischen Bezügen daherkommen. Und es muss nicht jede öffentlich-rechtliche Krimifigur ihre Meinung zu realen Parteien ausdrücken. Aber es sollte genauso wenig verboten sein – denn damit öffnet man nur die Büchse der Pandora: Es beginnt beim Anti-AfD-Sticker, und wo soll es enden? Wollen wir Politik völlig aus Geschichten raus halten, haben wir nämlich keine Geschichten mehr.

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Sentinel2003
22.11.2018 07:54 Uhr 1
Krass gut geschrieben, wieder mal @sid!! Da wird sich die ätzende Afd ganz bestimmt tierrisch gefreut haben, daß die ARD diesen Sticker entfernt ht und vor Ihnen "auf den Knien gerutscht" ist!!!





Ich habe diesen "Polizeiruf" noch nicht gesehen, nehme die erst immer auf.... :wink:
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