Serientäter

«The Staircase»: Netflix’ Fortsetzung eines stilprägenden True-Crime-Hits

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Netflix unterhält mittlerweile ein breites Repertoire an True-Crime-Dokumentationen. Dazu zählt auch ein gefeiertes Format, das der Streamin-Anbieter nun fortsetzen ließ.

Facts zu «The Staircase»

  • Originaltitel: «Soupçons» ("Verdacht")
  • Regie: Jean-Xavier de Lestrade
  • Episodenzahl: 13
  • Laufzeit pro Episode: ca. 45 Minuten
  • Auszeichnungen: Peabody Award (2005)
  • Sophie Brunet, die die Serie schnitt, hatte eine 15 Jahre währende Beziehung mit dem Angeklagten Michael Peterson
Gerade Zuschauer im angloamerikanischen Raum können dieser Tage nicht genug von True Crime bekommen, von Formaten, die auf wahren Kriminalfällen basieren, meist Dokumentationen. Während hierzulande «Aktenzeichen XY…ungelöst» in diesem Genre alles überstrahlt, hat die ZDF-Sendung wenig mit den Hochglanz-Produktionen gemeinsam, die in der jüngeren Vergangenheit bei Netflix an den Start gingen. Die großen Namen im Bereich der True-Crime-Dokus hießen zuvor «The Jinx» von HBO oder Werner Herzogs «Into the Abyss», mit „Serial“ erhielten sogar True-Crime-Podcasts eine ungemeine Aufmerksamkeit. Dann kam Netflix, das sich die Faszination um reale Verbrechen zunutze machte.

Das «Citizen Kane» des True-Crime-Genres?


Einen Meilenstein lieferte der Video-on-Demand-Anbieter schon im Jahr 2015 mit «Making a Murderer», dessen Fall noch heute Schlagzeilen macht. Mit «Amanda Knox» folgte im Jahr darauf ein Doku-Film, dann kam «The Keepers» um Mord und Missbrauch in einer erzkatholischen US-Schule. Im Jahr 2018 zog Netflix das Tempo dann an. Erst erschien «Evil Genius» um die mörderische Meister-Manipulateurin Marjorie Diehl-Armstrong, dann folgte Anfang Juni «The Staircase: Tod auf der Treppe». Wem letzterer Formatstitel bekannt vorkommt, der wird sich womöglich schon einmal mit dem Fall befasst haben, dessen Chronik die kürzlich erschienene Netflix-Doku fortsetzte und weiter haarklein dokumentiert. Tatsächlich war es vermeintlich «The Staircase», das die True-Crime-Welle in der US-Unterhaltungsindustrie erst auslöste und die Form von True Crime nachhaltig beeinflusste.

«The Staircase» handelt vom Fall um den in South Carolina lebenden Krimiautor Michael Peterson, der am 9. Dezember 2001 einen Krankenwagen ruft, weil seine Frau Kathleen die Treppe heruntergefallen sei. Die Ehefrau des Autors überlebt die Nacht nicht, doch Polizei und Staatsanwaltschaft wittern mehr als einen Unfall. Viel Blut und mehrere tiefe Verletzungen am Kopf der Toten deuten auf weitere Gewalteinwirkung hin. Der Hauptverdächtige: Ehemann Michael. Doch die beiden führten eine nahezu idyllische Ehe und lebten mit ihren zwei Kindern und ihren zwei weiteren Adoptivtöchtern die perfekte US-Familie vor. Es sollte der Beginn eines 16 Jahre währenden Rechtsstreits sein, in dem viel schmutzige Wäsche gewaschen wurde, der jedoch allen Beobachtern gleichzeitig große Rätsel aufgab.

Glücklicherweise ermöglichte der Angeklagte Jean-Xavier de Lestrade, der mit seiner True-Crime-Doku «Ein Mörder nach Maß» im Jahr 2001 einen Oscar gewonnen hatte, einen nie dagewesenen Einblick in das Privatleben eines auf der Anklagebank stehenden, mutmaßlichen Mörders. Schon kurz nach der Anklage Petersons wich de Lestrade dem Schriftsteller kaum von der Seite und fing neben dem Familienleben Petersons auch die Vorgänge im Büro seines Anwalts, in der Staatsanwaltschaft und im Gerichtssaal ein. Die französische Miniserie endete ursprünglich mit der Verurteilung Petersons, im Oktober 2004 fand die Produktion dann ihren Weg auf die Bildschirme, ehe sie 2005 einen Peabody Award erhielt.

Netflix, übernehmen Sie!


«The Staircase» und seine TV-Geschichte

  • Weltpremiere: 7. Oktober 2004 (Canal+, 8 Episoden)
  • Fortsetzung: 30. Januar 2013 (Canal+, 2 Episoden)
  • Netflix: 8. Juni 2018 (Netflix, 3 Episoden)
Doch damit war der Fall Michael Peterson noch nicht auserzählt – dachte sich auf Netflix, spätestens als der Fall durch neue Erkenntnisse wieder aufgerollt wurde. Nach den acht Teilen im Rahmen des Originalruns und zwei neuen Episoden aus dem Jahr 2013 ließ Netflix weitere drei Ausgaben produzieren, um die Geschichte über den „Tod auf der Treppe“ endlich abzuschließen. Das Ergebnis ist - nach wie vor - True Crime auf höchstem Niveau, dabei setzt «The Staircase» weiter auf die Elemente, die die Serie schon im Jahr 2004 zum qualitativ hochwertigen Sehgenuss werden ließen.

Ganz bewusst und vollkommen bedacht folgt «The Staircase» einer rein beobachtenden Herangehensweise an den Fall, den es dokumentiert. Nie schlägt sich das Format auf eine Seite oder macht sich das Leid der Familie Peterson exploitativ zunutze, um die Emotionen auf Seiten der Zuschauer hochkochen zu lassen. Doch der Fall spricht ohnehin für sich und schon in den ersten acht Originalausgaben werden sich Zuschauer früher oder später dabei ertappt haben, sich hoffnungslos auf die Seite des beschuldigten Krimiautors geschlagen zu haben. Auf der anderen Seite darf sich «The Staircase» nicht wiederholen und tatsächlich dienen die drei neuen Ausgaben einem anderen Zweck als die ursprünglichen acht und die später folgenden zwei Episoden, nämlich den 2001 eröffneten Rechtsfall endlich abzuschließen.

Was «The Staircase» beibehält ist seine verworrene und mehrdeutige Herangehensweise, die spätere Genrevertreter wesentlich beeinflusste. Womöglich werden einige Zuschauer unbefriedigt zurückgelassen, denn die Dokuserie beantwortet nicht die Frage, ob Michael Peterson seine Frau Kathleen an jenem Dezemberabend wirklich ermordete und danach versuchte, seine Tat kaltblütig als Unfall zu tarnen. Doch dazu trat «The Staircase» auch nie an. Wie viele andere True-Crime-Dokus auch, beispielsweise «Making a Murderer», untersucht «The Staircase», ob Michael Peterson vom Justizsystem in den USA fair behandelt wurde.

«The Staircase» bildet Wahrheiten ab – bleibt diese aber auch schuldig


Die Antwort fällt erschütternd aus. Deshalb besteht in den USA wohl auch so ein großes Interesse an den verzwickten Rechtsfällen, deshalb finden sich diese auch in einer so hohen Zahl. Weil die US-Justiz sich noch immer Praktiken verschreibt, die nach deutschen Standards keinen Sinn ergeben, einen fairen Prozess häufig sogar verhindern. Insbesondere durch die Medien selbst, die sich wie Hyänen auf derartige Prozesse und deren Protagonisten stürzen und versuchen, durch Hysterie zu Einschaltquoten zu gelangen, dabei aber die Öffentlichkeit beeinflussen und aufstacheln. Derweil müssen Anklage und Verteidigung lediglich die Juroren, normale Menschen wie du und ich, von der Richtigkeit ihrer Argumente überzeugen und verlieren sich dabei in emotionalisierenden Tiraden ohne Hand und Fuß. „Es ist ziemlich erschütternd zu sehen, was als Wissenschaft und Gerechtigkeit in einem Gerichtssaal durchgeht“, sagt ein Anwalt in der Doku. Gerade deutsche Zuschauer, denen diese Praktiken fremd sind, werden dies mit noch immer weit aufgerissenen Augen angesichts des Wahnsinns, der sich dort im Gericht abspielt, unterschreiben.

Natürlich spielt auch das Glück in die Produktion derartiger TV-Perlen mit hinein. Unter keinen Umständen hätte de Lestrade die unglaublichen Wendungen vorhersehen können, die der Fall Michael Peterson bereithielt. Doch der Oscar-Gewinner verliert sich zu keinem Zeitpunkt im Spektakel und setzt die gleichen nüchternen Maßstäbe an wie in allen Ausgaben des Formats. Das macht die Doku nicht langweilig, düster oder pessimistisch. Häufig baut de Lestrade auch den Galgenhumor der Beteiligten ein, um dem Wahnsinn ein bisschen die Kraft zu rauben.

Standen in den frühen Ausgaben von «The Staircase» noch der umgängliche und geschwätzige Michael Peterson und dessen ebenso schlagfertiger Anwalt David Rudolf im Fokus, dessen Person sich auch angesichts seiner Erschöpfung und Frustration im Zuge des Falls entfaltet, rücken in den drei Netflix-Originalfolgen die Adoptivtöchter Petersons in den Mittelpunkt des Geschehens, deren junges Erwachsenenleben vom Prozess überschattet wurde. Obwohl sie ihre erste Familie verloren - Freunde der Petersons, die in Deutschland kurz nacheinander starben - schließlich auch ihre Adoptivmutter und ihren seine Haft absitzenden Vater, bauten die beiden sich ein einigermaßen normales Leben auf und dienen als Inspiration.



Vorreiter, Paradebeispiel, Genre-Koryphäe. «The Staircase» lieferte und liefert auch mit den drei neuen Folgen eine Blaupause dafür, was anspruchsvolle und beliebte True-Crime-Unterhaltung heutzutage mitbringen muss. Nämlich Sorgfalt, eine ausbalancierte, objektive Sicht auf sein Untersuchungsobjekt und seine Protagonisten, einen Zugang hinter die Kulissen und natürlich einen faszinierenden, einnehmenden Fall. Mit dieser Herangehensweise machen sich True-Crime-Dokus wie «The Staircase», die heute so gefragt sind wie nie zuvor, unabhängig von seinem eigentlichen Fall und dessen Ausgang. Denn «The Staircase» liefert Wahrheiten über die Natur des Menschen und Zustände in unserer Gesellschaft, selbst wenn die Wahrheit über den eigentlichen Kriminalfall wohl für immer unbekannt bleiben wird.

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